Bosmans/Deleu 04 -Todeswahn
starrte, dass sie an ihm zu kleben schien. Er nippte an seinem Glas und würdigte den Besuch keines Blickes.
»Darf ich vorstellen: Marcel«, sagte Juul, »war früher bei der Stadt.«
»Ich war nicht nur da, ich habe da auch gearbeitet!« Der Alte lachte, dass man sein ruiniertes Gebiss sah.
Keiner der Männer beachtete Wichtchen, die doch trotz ihrer Beule an der Stirn ein so wunderhübsches Baby war.
Verbist fühlte sich unbehaglich. Die beiden alten Herrn kommunizierten ohne Worte. Ab und zu ein »hmmm« oder ein »grhhh« genügte ihnen. Dennoch schienen sie sich gut zu verstehen, ja, es herrschte ein perfektes Einvernehmen zwischen den beiden. So etwas hatte Verbist nie gekannt, einen wahren Freund, ein enges Band.
»Das ist ein Freund von unserem Chris«, erklärte Juul.
Marcel hörte auf, Geräusche von sich zu geben, und bohrte ausgiebig in der Nase. Träge hob er den Kopf, betrachtete Verbist und das Baby von schräg unten und bemerkte: »Aha, ein Freund von Chris, und schon einen strammen Sohn.«
»Eine Tochter«, verbesserte Verbist, dessen Augenlider jetzt rhythmisch zuckten.
Marcel schneuzte sich lautstark und rieb sich mit dem schmuddeligen Taschentuch über die Stirn. Anschließend räusperte er sich und spuckte in den Stoff. Dann faltete er das Taschentuch zusammen und winkte damit Wichtchen zu, die prompt danach grapschte.
Verbist zog die Hände seiner Tochter weg. Marcel gab auf und trank einen tiefen Zug von seinem Jenever.
»Du bist also ein Bekannter von Chris?«, fragte er.
»Nicht direkt, aber ich kenne Chrissie, seine …«
»Chris, Juuls Sohn, ist Anästhesist im Krankenhaus, gute Stellung«, unterbrach der Alte Verbist. »Und was machen Sie beruflich?«
»Ich arbeite bei einer Bank.«
»Auch eine gute Arbeit.«
»Ich kenne Juuls Enkelin Chris«, sagte Verbist hastig, aber Marcel, der die ganze Zeit nur die Pappschachtel anstarrte, schien gar nicht richtig hinzuhören.
»Er hat keine Enkelin und auch keinen Enkel. Juul ist ganz allein, er hat nur seine Freunde, stimmt’s?«
Sein erwartungsvoller, stumpfsinniger Blick verursachte Verbist eine Gänsehaut.
»Willst du noch einen, Juul?« Marcel hob die Flasche und schielte nach Verbist, der neben ihm saß wie ein Kommunionkind. »Was ist denn in der Schachtel drin?«
»Sterben müssen wir alle«, murmelte Juul.
Marcel füllte die Gläser.
»Noch was?«
»Nein, ich habe schon genug intus.«
»Du musst es wissen.«
Marcel rollte sich eine Zigarette, dick wie ein Ofenrohr.
Hoffentlich bläst er den Rauch nicht in unsere Richtung. Soll ich ihm sagen, dass ich das nicht möchte?
»Also, Juul, Prost, und auf dass wir noch lange so weitermachen. Das nächste Mal bei mir.«
»Suffkopp«, murmelte Juul.
»Weißt du noch, Juul, wie meine bessere Hälfte meine Flasche immer unter dem Spülbecken versteckt hat, neben dem Essig? Und wie du damals im Tran die Flasche Essig fast leer getrunken hast? Kannst du dich noch daran erinnern?«
Juul antwortete nicht. Juul konnte sich an nichts mehr erinnern.
Verbist tat der alte Mann leid.
Alte Leute. Entweder sie sind hilflos oder ewig voll bis zum Stehkragen oder ganz verhutzelt von Krankheit und Not, aber ach, so rührend, so lieb, fast wie kleine Kinder.
Verbists Miene wurde weicher, und er unterdrückte die aufsteigenden Tränen.
Einen Großvater wie Juul oder meinetwegen sogar Marcel habe ich nie gekannt. Schlimmer noch: Auch Wichtchen wird nie so einen Großvater haben.
»Weißt du noch, Juul, wie meine bessere Hälfte …« Marcel riss seinen Saufkumpan mit den sinnlosen Wiederholungen aus dessen melancholischer Grübelei.
»Was für eine Hälfte?«, brabbelte Juul.
»Na, meine bessere Hälfte.«
»Was soll das denn heißen?«
»Na, meine Freundin, die Trees.«
»Tees?«, lallte Juul, der Probleme hatte, das »r« auszusprechen.
»Ja, die Trees, die mit dem dicken Hintern, weißt du nicht mehr?«
»Nein«, erwiderte Juul mürrisch, »das weiß ich nicht mehr.«
»Aha, Mijnheer ist kurz angebunden. Mijnheer ist wohl eingeschnappt. Mijnheer ist wohl eifersüchtig, weil ich zwei Weiber im Bett gehabt habe und er nur eine.«
»Zwei hast du gehabt, aber keine konntest du halten«, erwiderte Juul überraschend helle. »Alter Dummkopf.«
»Was soll das heißen, alter Dummkopf?«
»Wie ich gesagt habe! Du hast wohl schon vergessen, wer dir die Stelle bei der Stadt verschafft hat, nachdem man dich fünf Mal hintereinander auf die Straße gesetzt hatte.«
»Juul ist ein
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