Bosmans/Deleu 04 -Todeswahn
denen es gleichgültig ist, ob mein Kindchen und ich verkümmern!
Er nahm sie auf den Schoß, und schon war sie ruhig. Das funktionierte immer, diesmal genau sechs Sekunden lang. Er biss in sein Brot, doch noch bevor er zu kauen anfangen konnte, hatte Wichtchen auch schon seine Tasse Kakao umgeworfen.
Die braune Flüssigkeit troff von seiner Hose und ihrem Schlafanzug. Sie lachte begeistert.
Ist das süß! Gott, ich danke dir.
Verbist zog lustige Grimassen, was bei seinem länglichen Gesicht nicht schwer war. Wichtchen sah ihn schelmisch an. Immer, wenn er sich zu ihr beugte, kicherte sie hellauf und planschte mit den Händchen im Kakao herum. Er machte es ihr nach, legte den Kopf schief und biss ihr in den Hals.
Der spitzbübische Blick in ihren Augen schlug um in Erstaunen, aber als sie spürte, dass er es scherzhaft meinte, kehrten die Grübchen in ihren Wangen zurück. Sie spitzte die Lippen und stieß schrille Schreie aus.
Verbist ahmte ein Motorengeräusch nach – genauer: eine Kettensäge – und tat wieder so, als wolle er sie beißen. Sie quietschte vor Vergnügen, und jedes Mal, wenn er sich ihr näherte, spürte er, wie sie erstarrte. Sie zitterte vor Aufregung. Ekstatisch. Kinderglück.
In Zukunft spende ich regelmäßig für arme Kinder. Kinderglück ist das Schönste auf der Welt. Echtes, selbstloses Lachen, das ist nur Kindern gegeben.
Herman Verbist ertappte sich dabei, dass er religiöse Gedanken hegte. Das war schon lange nicht mehr vorgekommen.
Heute, an diesem schönen Tag, danke ich dir, Gott, dass ich das erleben darf. Dabei möchte ich dich auch gleich um Verzeihung bitten, dass ich dich so lange geleugnet habe. Ab heute glaube ich wieder an dich. Ich verzeihe dir, und ich hoffe, du verzeihst auch mir.
Nach fünf Minuten hatte Wichtchen keine Lust mehr und schlug kreischend um sich. Ehe ihr Vati begriff, was geschah, hatten sich ihre Fingerchen in seinen Haaren verkrallt. Sie ließ nicht los, so dass ihm schon die Tränen in die Augen traten, aber er ertrug die Schmerzen mannhaft, weil er Angst hatte, ihr die Finger zu brechen, wenn er sie löste.
Als die Folter endlich vorbei war, winkte sie lachend mit einem Haarbüschel.
Meine Haare! Ach, Läuterung kann unser Band nur verstärken.
Während sich Verbist mit einer Hand die schmerzende Stelle rieb und mit der anderen zu verhindern versuchte, dass Wichtchen herunterfiel, steckte sie blitzschnell – wie Sharon Stone in
Schneller als der Tod
– das Haarbüschel in den Mund.
Was nun?
Herman Verbist zwängte ihr die Finger zwischen die fest zusammengepressten Lippen, fühlte aber nichts, jedenfalls nichts, was sich wie menschliche Haare anfühlte.
Als er ihr Zäpfchen berührte, erbrach sie sich und rang verzweifelt nach Luft. Verbist sprang auf, drehte eine Pirouette und glitt in dem Erbrochenen aus, konnte sich jedoch gerade noch an einer Tischecke festhalten. Er zog die Tischdecke mit allem, was darauf war, in seinem Fall mit sich, rappelte sich auf und rannte mit dem Baby im Arm aus der Wohnung.
Wichtchen lachte aus vollem Hals – wieder ein neues Spiel –, öffnete die andere Hand und zeigte stolz das Haarbüschel.
Wichtchen ist eine kleine Hexe.
Verbist versetzte ihr einige spielerische Klapse auf den Po, ging wieder hinein, hob sein Butterbrot vom dreckigen Boden auf und setzte sich Wichtchen zwischen die Beine. Doch noch bevor er den ersten Bissen gegessen hatte, fuchtelte ihm Wichtchen auf einmal mit dem großen Brotmesser gefährlich vor dem Gesicht herum. Er verschluckte sich, hustete, sah nur noch verschwommen und griff angsterfüllt zu. Die scharfe Klinge fuhr durch seine Handfläche.
Dicke Blutstropfen fielen rhythmisch auf die verschossene Tischdecke, wo sie bräunliche Flecken bildeten. Wichtchen sah fasziniert zu. Verbist ebenfalls. Er rührte sich nicht, klapperte nur mit den Zähnen.
Es war eine Szene wie aus einem Horrorfilm: Wichtchens Schlafanzug, die alte Tischdecke, das Brot, sein T-Shirt, alles war voller Blut!
Mein Blut. Ich habe mein Blut für mein Kind vergossen. Gleich muss ich wieder weinen. Siehst du jetzt, dass ich nicht schlecht bin? Siehst du es jetzt? Du musst nicht alle meine Taten gutheißen, wahrhaftig nicht. Aber gute Geister sehen doch sowieso nur gute Dinge. Jahrelang, Oma, jahrelang habe ich um ein Zeichen gefleht. Jeden Morgen, wenn ich mit dem Zug nach Brüssel gependelt bin, habe ich in der vorbeihuschenden Landschaft nach einem Zeichen Ausschau gehalten. Sogar in den
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