Bosmans/Deleu 04 -Todeswahn
Morgenmantel, als sei es die normalste Sache der Welt.
»Das ist nur Poesie. Ein Gedicht. Für …«
»Hmmm«, unterbrach sie ihn gähnend. »Wo ist die Kohle?«
Es wurde mucksmäuschenstill. Das Licht des Bildschirms spiegelte sich in den silbrigen Wänden wider.
»Wo ist der Rest von der Kohle?«
Verbist erstarrte und brachte nur mühsam eine Erwiderung hervor. »Ver…giss es … du … kriegst … keinen… Cent. Nichts!«
Während er tief ein- und ausatmete, tippte sie ihm auf die Schulter, und er sah sich um, ängstlich wie ein aufgescheuchtes Reh. Chris, die Hände in die Seiten gestützt, wollte sich schier ausschütten vor Lachen. Arrogant, jung und beneidenswert munter. Herman Verbist fühlte sich schmutzig. Und einsam.
»Geh zurück zu deinem Freund. Zwischen uns ist es aus.«
»Warum?«
»Weil du nur auf mein Geld scharf bist.«
»Ganz genau, und du wirst es mir holen gehen.« Ein grausames Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Ich hole dir gar nichts.«
»O doch, und weißt du auch, warum?«
Die beklemmende Stille füllte den ganzen Raum aus. Es gab kein Entrinnen.
»Nein, natürlich nicht, du Schlappschwanz. Ich werde dir sagen, warum. Soll ich dir mal ein Gedicht vortragen?«
»Na schön«, antwortete er wütend.
Chris rollte den Bürostuhl zurück, setzte sich auf sein Knie und sprach mit hellem Kinderstimmchen: »Es war einmal ein liebes altes Ehepaar. Großvater war wohlhabend, und Großmutter fehlte es an nichts. Sie lebten glücklich, aber nicht sehr lange. Großmutter war schlecht zu Fuß, und ein nettes sechzehnjähriges Mädchen half ihr ab und zu im Haushalt. Großvater war begeistert von seiner neuen Enkelin. Großmutter musste sich oft ausruhen, weil ihr Herz manchmal aussetzte. Als Großmutters Lebenslicht erlosch, war Großvater sehr einsam. So kam es, dass das nette Schulmädchen ihm regelmäßig Gesellschaft leistete. Und er wusste ihre guten Taten gebührend zu schätzen. Gegen etwas Kleingeld gab das junge Mädchen Großvater dann und wann ein bisschen Zärtlichkeit, gewürzt mit einem Schuss Pinkelporno und ein wenig SM . Da das junge Mädchen oft unglücklich war, kamen ihr Großvaters Zuwendungen gerade recht, um sich hin und wieder einen Schuss zu leisten. Alles lief bestens, bis ein Spielverderber auf der Bildfläche erschien.«
Chris tippte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Verbists Stirn. Ihre groben, quadratischen Fingernägel glichen gefährlichen Schaufeln. Verbist konnte seinen Ekel nicht verhehlen.
»Geh … weg … von … hier!«
»Warte, warte, der Clou kommt erst noch! – Eines schönen Tages kommt das kranke junge Mädchen, um sich sein Geld zu holen, und findet ihre Einkommensquelle tot in einer Blutlache liegend. Das kranke junge Mädchen rennt voller Angst weg, aber im Treppenhaus hilft ihr plötzlich eine gute Fee, denn sie findet das Portemonnaie vom bösen Wolf. Das Mädchen klingelt bei dem Blödmann und verlangt ihren rechtmäßigen Unterhalt. Jetzt! Heute! Abrechnung!«
Verbists Herz klopfte mit einem Mal doppelt so schnell.
»Aber ich dachte, Juul wäre dein Großvater?«, stotterte er.
»Juul? Wer zum Teufel soll denn Juul sein? Ich habe gar keinen Großvater. Ingenieur Louis Goegebuer war mein Liebhaber!«
»Du kannst mir nichts nachweisen«, keuchte Verbist.
»Gib mir mal einen Geldschein.«
»Was?«
»Eine Banknote, Geld!«
»Aber …«
»Einen Geldschein, bitte.«
Verbist zog mit zittrigen Fingern eine Banknote aus seiner Hosentasche. Chris zupfte sie ihm aus der Hand und hielt sie ihm herausfordernd vor die Nase.
Verbist sah sie fragend an.
»Nimm es. Nimm es ruhig.«
Er griff danach. Chris zog den Geldschein mit einer schnellen Bewegung wieder weg. Sie lachte.
»Weißt du noch? Weißt du noch, Herman?«
Verbist wurde ganz schlecht, als er daran dachte. Sein erster Gedanke galt Wichtchen.
»Juul … Chris … keine Enkelin …«
»Und dieser bewusste Geldschein mit deinen Fingerabdrücken darauf liegt jetzt oben in der Wohnung. Den Rest von Louis’ Geld habe ich längst auf den Kopf gehauen.«
»Wie bist du denn in seine Wohnung hineingekommen?«
»Ich habe einen Schlüssel.«
Verbist packte Chris an den Handgelenken, schüttelte sie durch und zwang sie auf die Knie.
»Aber den habe ich natürlich nicht bei mir«, röchelte sie.
Verbist richtete sich auf, ging aber sofort wieder in die Knie. Er war fix und fertig. Das Kinn hing ihm auf der Brust, und die Zunge hatte er zwischen die Zähne
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