Bosmans/Deleu 05 -Schnitzeljagd
du mir irgendetwas …«
Doch Vereecken machte eine abwehrende Handbewegung. »Lies es einfach, wenn du Zeit hast. Und dann sag mir, was du davon hältst.«
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4
D ie hochgewachsene Frau konnte höchstens fünfundvierzig Jahre alt sein, aber mit den streng hochgesteckten Haaren und dem schwarzen knöchellangen Kleid, das bis oben zugeknöpft war, wirkte sie bedeutend älter.
Betty Vernimmen, einzige Tochter des verstorbenen Notars Willem Vernimmen, hielt einen Staubwedel vor sich ausgestreckt, an dem ein Slip ihres Mannes baumelte.
Das Stück Baumwolle hatte sie mit spitzen Fingern über den Stiel des Besens gelegt. Eine benutzte Unterhose sollte man besser nicht anfassen und schon gar nicht im Schritt, der Quelle von Übel und Verdruss. Die Frau handelte weniger aus puritanischen Gründen als aus alter Gewohnheit. Männer waren schließlich böswillige Wesen und trotz aller historischen Entwicklungen immer noch minderwertig, nur von ihren krankhaften Instinkten getrieben. Den eindeutigen Beweis dafür stellte dieser Slip dar, den sie noch immer weit von sich hielt und der unbestreitbar mit Flecken besudelt war. Harte, eingetrocknete Flecken. Alles andere als Urinflecken.
Sie erschauderte angeekelt. Anfangs hatte sie ihn noch als Beischläfer geduldet, ihren Ehemann Jozef. Aber jetzt nicht mehr. Seit eineinhalb Jahren schlief er im Hinterzimmer, in Tante Eufrasias altem Bett. Die Gute würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüsste … Nacht für Nacht. Und Tag für Tag, denn manchmal lag er auch tagsüber stundenlang im Bett: Jozef Van Cleynenbreughel – mit großem V, weil alles andere als von adliger Herkunft –, ihr untreuer, abgeschlaffter Nichtsnutz von Mann.
Als die Hintertür aufging, rief sie herablassend: »Schuhe nicht vergessen, Jozef!«
Wie so oft reagierte Jozef Van Cleynenbreughel nicht. Er schlüpfte in den Keller, wo seine Frau ihn einst vorgefunden hatte, ein Tuch über dem Kopf und am ganzen Körper zitternd, die schlammigen Hände schützend vor sich ausgestreckt. Seitdem kümmerte sie sich nicht mehr um seine Eskapaden. Hauptsache, das Haus blieb sauber …
Dieses Mal war Van Cleynenbreughel auffallend ruhig, während er die Stufen hinabstieg. Allerdings jagte ihm ein Schauer über den Rücken, als zum zweiten Mal die Worte »Schuhe nicht vergessen, Jozef« durch den Flur hallten.
Jozef Van Cleynenbreughel ging durch den weiß gekalkten Gewölbekeller zum hintersten Raum, seinem Privatheiligtum. Schweigend betrachtete er sein Spiegelbild in dem rissigen Spiegel über der Werkbank und schüttelte sich, als er an die subtilen Beleidigungen, die unausgesprochenen Demütigungen und die auslaugenden Unterstellungen dachte, die sich in ihm wie ein schleichendes Gift langsam, aber unerbittlich angesammelt hatten. Wie Nitroglyzerin – bis die tödliche Erschütterung erfolgte.
Deleu hockte auf dem Bett, die Beine übereinandergeschlagen. Auf seinen Oberschenkeln lag die Akte über ein enthauptetes blondes Mädchen. Immer wieder wanderte sein Blick von den Unterlagen zum Spiegel, weil er gleichzeitig versuchte, sich mit einer Nagelschere ungeschickt ein Haarbüschel über dem Ohr zu stutzen. Er drehte den Kopf ein Stück, betrachtete sein Spiegelbild und seufzte – von Symmetrie konnte noch lange nicht die Rede sein.
Als er ein Knarren zu hören glaubte, warf er einen raschen Blick auf die Tür und lauschte. Doch außer dem monotonen Klatschen des Regens, der von der Dachrinne auf den Fenstersims tropfte, war nichts zu hören. Ein plötzlicher Windstoß ließ die Fensterscheiben klappern. Deleu stand auf und ging zum Fenster, wo er lustlos in den Innenhof der alten Kaserne schaute.
Der Anblick der Abenddämmerung, die düstere Schatten auf die Mauern mit den schmalen, hohen Fenstern warf, konnte seine Laune ebenso wenig verbessern wie die kleine Speckrolle, die er zwischen den Fingern spürte.
Er ging zur Kaffeemaschine, und als er den letzten Rest Kaffeepulver direkt aus der Dose in die Filtertüte kippte, klopfte es an der Tür.
Deleu schaute auf seine Uhr und kratzte sich im Nacken, wo er an einer Seite noch lange Haare fühlte.
»Ist offen!«
Nadia Mendonck blieb in der Türöffnung stehen. Sie lehnte sich gegen den Rahmen, wischte einen Wassertropfen von der Nasenspitze und warf einen Blick auf den staubigen Kronleuchter.
Nadia sah zehn Jahre älter aus, als sie eigentlich war. Ihr Gesicht hatte eine graue Farbe angenommen, und ihre von Natur aus lebendigen Augen
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