Bote des Todes
Schritte vor, um ihre Großmutter zu umarmen, die ein wenig zitterte. So lebhaft und unverwüstlich sie auch wirken mochte, war Granny Jon doch ziemlich gebrechlich. Moira bewunderte sie. Sie hatte ihr Legenden über Kobolde und Todesfeen erzählt und später dann von den wahren Erlebnissen im jahrelangen Freiheitskampf der Iren. Sie war scharfsinnig und weise, und sie hatte gesehen, wie ihre Stadt zu einem Schlachtfeld geworden war. Und doch hatte sie es geschafft, die Menschen nach wie vor zu lieben, einen wunderbaren Sinn für Humor zu bewahren und vernünftig über Politik und Leute zu urteilen.
„Moira, du bist keinen Tag älter geworden“, zog Granny Jon sie auf. „Katy, zeig endlich mal Herz. Deine Tochter erfüllt uns mit Stolz. Sie hats geschafft in New York, während Patrick über Massachusetts nicht hinausgekommen ist.“
„Ach, hör auf. Der Westen von Massachusetts ist mindestens so weit weg wie New York City“, erwiderte Katy.
„Aber da ist auf den Straßen nicht so viel los“, beharrte Granny Jon.
„Und nicht zu vergessen: meine boshafte jüngere Schwester“, meinte Moira scherzhaft und rollte mit den Augen.
Katy nickte den beiden mit einem ironischen Lächeln zu. „Tja, Colleen lebt im äußersten Westen der Staaten, und sie hat noch nie mit dem Gedanken gespielt, an St. Patrick’s Day nicht herzukommen.“
Moira seufzte. „Mum, ich bin jetzt hier, und ich bringe sogar noch ein paar Nicht-Iren mit, damit du sie bekehren kannst.“
„Wir hören ja schon auf“, sagte Katy. „Erst mal bekommst du jetzt eine Tasse Tee. Granny Jon hat eben das Wasser aufgesetzt …“
„Wird er denn so stark sein, dass er sich in seiner Kanne selbst zum Tisch trägt?“ fragte Moira und grinste ihre Großmutter an.
„Sprich nicht so mit mir“, tadelte Granny Jon scherzend. „Wenn ich eine Kanne Tee aufgieße, dann ist es ein vernünftiger Tee, nicht irgendeine Brühe. Na, was haben wir denn hier?“
Moira hatte nichts gehört, aber hinter Granny Jon entdeckte sie Patricks und Siobhans Kinder: Ihr Sohn Brian war neun, die Töchter Molly und Shannon waren sechs beziehungsweise vier Jahre alt.
„Hallo!“ rief Moira ihnen zu und ging in die Hocke, um den Kleinen ihre Arme entgegenzustrecken. Die kamen auf sie zugestürmt und umarmten und küssten sie.
„Auntie Mo“, sagte Brian. Als er jünger war, hatte er es nie geschafft, ihren Namen auszusprechen. Seitdem war sie für ihn und die anderen Kinder immer nur Auntie Mo. „Kommen wir wirklich ins Fernsehen?“
„Ja, natürlich“, antwortete sie. „Wenn ihr wollt, kommt ihr ins Fernsehen.“
„Cool!“ meinte Molly.
„Cool!“ wiederholte Shannon und sah Moira mit großen Augen an.
„Alle Kinder in der Vorschule werden darüber reden!“ sagte Moira und fuhr ihr durchs Haar. Brian war fast ein kleineres Ebenbild ihres Bruders, da er dessen nussbraune Augen und das dunkelbraune Haar hatte. Die Mädchen kamen mit ihren blonden Haaren und den großen blauen Augen nach ihrer Mutter. Es waren wundervolle Kinder, die sich zu benehmen wussten, ohne schüchtern zu sein. Das verdanken sie Siobhan, dachte Moira. Ihre Schwägerin wirkte wie eine Puppe. Und Patrick … wie hatte Granny Jon es einmal formuliert: Er kann in einen Kuhfladen fallen und trotzdem nach einem Strauß Rosen duften.
Moira bewunderte ihren Bruder, aber sie wünschte sich auch, dass er nicht immer seinen Willen durchsetzte und am Ende dennoch bei jeder Gelegenheit als mustergültiger Sohn dastand. Er hätte Politiker werden sollen. Vielleicht würde es eines Tages sogar dazu kommen. Er war Jurist und praktizierte in einer winzigen Stadt im Westen von Massachusetts. Dort besaß er auch Land, auf dem er Pferde und ein paar Farmtiere hielt, und trotz allem schaffte er es, dass es bei ihm zu Hause so aussah wie in einer Wohnung, die man in
Architectural Digest
und ähnlichen Magazinen zum Thema „Schöner wohnen“ gezeigt bekam. Er kam geschäftlich des Öfteren nach Boston, und natürlich nutzte er jede dieser Gelegenheiten, um seine Eltern zu besuchen.
Ihr Bruder hatte es mit seiner Ehe gut getroffen, fand Moira. Sie wusste, dass Siobhan – eine geborene O’Malley – ein Risiko eingegangen war, als sie Patrick nach seiner wilden Zeit am College geheiratet hatte, aber offensichtlich hatte es sich gelohnt. Auch nach zehn Jahren Ehe schienen die beiden sehr glücklich und sehr verliebt zu sein.
„Cool, cool, cool, Auntie Mo!“ wiederholte Shannon.
„Cool. Das gefällt
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