Bote ins Jenseits
Ermangelung eines entsprechenden Programms, ebenfalls nicht. Dafür existierte ein von ein paar geschäftstüchtigen oder einfach nur gelangweilten Seelen betriebener Radiosender mit dem schönen Namen »Radio Otherside«, der ein Potpourri aus vierundzwanzig Stunden Kammermusik, Veranstaltungstipps, Familienzusammenführung und den endgültigen Beweis lieferte, dass sich Anglizismen durch nichts aufhalten ließen. Dummerweise hatte er noch keine Arbeit und konnte sich daher kein Radio leisten.
Dafür nahm ein prall gefülltes Bücherregal eine ganze Wand des Wohnzimmers ein. Ein flüchtiger Blick auf die ausgestellten Werke offenbarte ihm Titel und Autoren, die er kannte, und auch solche, von denen er noch nie gehört hatte. Jetzt würde er endlich mal Zeit zum Lesen finden. In seinem irdischen Dasein hatte er sich oft genug beklagt, nie dazu zu kommen.
Insgesamt machte die Wohnung einen recht gemütlichen Eindruck. Es sollte möglich sein, hier zwei Wochen verweilen zu können und sich in aller Ruhe Gedanken zu machen. Kamp hatte das Gefühl, in sich zu ruhen, und ging, ohne darüber nachzudenken, in die Küche, um die Schränke nach einem Wasserkocher und Teebeuteln zu durchsuchen. Sie waren alle leer.
Die Bemerkung des Boten Luc kehrte in sein Bewusstsein zurück, und er fühlte so etwas wie Panik in sich aufsteigen. »Hunger und Durst existieren hier nicht.«
»Verdammt!«
Er konnte sich keinen Tee machen. Er konnte nicht mal in ein Cafe gehen und sich einen bestellen! Frustriert ging er zurück ins Wohnzimmer und ließ sich in den Sessel fallen. Er klappte mit der Handfläche auf die Armlehne und sah sich um. Was sollte er jetzt machen? Kaum zu glauben, er war gerade mal eine Viertelstunde auf sich allein gestellt und fing schon an, sich ganz fürchterlich zu langweilen. Dabei erschien die Aussicht auf eine Pause noch vor wenigen Minuten geradezu verlockend.
Zum Lesen hatte er jetzt keine Lust. Er hätte lieber die Glotze angemacht, aber dafür musste er erst mal reinkarnieren. Er konnte auch niemanden anrufen, weil es im Jenseits keine Telefone gab. Er wusste nicht mal, wie spät es war. Uhren schien es im Jenseits ebenfalls nicht zu geben, zumindest hatte er noch keine gesehen.
»Moment mal«, murmelte er.
Er sah sein linkes Handgelenk an. Genau wie die Kleidung, die er zum Zeitpunkt seines Todes getragen hatte, war auch seine Uhr noch da. Und sie funktionierte! Zehnter Februar, zehn Uhr. Leider war es ihm unmöglich, festzustellen, ob morgens oder abends. Kamp bearbeitete die Armlehnen jetzt mit Fäusten. Er spürte das unwiderstehliche Bedürfnis, laut zu schreien.
Vielleicht war es das Beste, wenn er sich einfach hinlegen würde. Ein wenig schlafen, auch wenn er nicht mal ansatzweise müde war. Er spürte nur eine Art geistige Erschöpfung, die wohl auf die Reizüberflutung der letzten Stunden zurückzuführen war.
In seinem bisherigen Leben war es immer so gewesen, dass sich gewisse Probleme im Laufe einer Nacht von allein erledigten. Wenn er morgens aufwachte, kam ihm alles, was noch am Vortag sehr kompliziert erschien, schon viel einfacher vor. Er hoffte, dass es auch hier funktionieren würde, ging ins Schlafzimmer, zog sich aus und legte sich ins Bett.
Seine Gedanken galten seinem Ableben. Wer konnte ihm wohl den Tod gewünscht haben? Hatte er jemanden verärgert, war er jemandem im Weg? Er hatte nicht den geringsten Verdacht und konnte sich nicht vorstellen, diese Ungewissheit jemals zu akzeptieren. Aber von seinem Bett aus würde er auf diese Frage wohl keine Antwort erhalten. Kamp schloss die Augen.
Kamp öffnete die Augen. Er konnte tatsächlich nicht schlafen. Dabei hatte er immer für sein Leben gern geschlafen. An den Wochenenden bis mittags im Bett liegen bleiben war keine Seltenheit bei ihm. Damit war es jetzt vorbei, für immer! Er würde die nächsten zwei Wochen, ohne einmal die Augen schließen zu können, mit Nachdenken verbringen müssen. Wie sollte ihm das helfen?
Er konnte sich selbst sehr gut einschätzen und wusste genau, dass es ihm niemals möglich sein würde, sich auf seine Zukunft im Jenseits zu konzentrieren, solange er nicht wusste, wer ihn auf dem Gewissen hatte. Außerdem fehlte ihm sein Job, seine Schwester, sein bester Freund und natürlich auch Marita. Er vermisste sein Auto. Er vermisste es, in Ruhe einen Tee zu trinken, oder es sich nach der Arbeit auf dem Sofa gemütlich zu machen und den Abend vor dem Fernseher zu verbringen. Er vermisste es
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