Bote ins Jenseits
Moment markiert ihre Seele, ohne dass sie es wissen. Sie legen damit das eigene Erscheinungsbild für ihr Leben im Jenseits fest. Es ist die Erinnerung an die Zeit vor diesem Moment, das Herbeisehnen der eigenen Jugend, der Zustand, den sie am liebsten für immer konservieren würden. Bei den meisten Menschen geschieht dies zwischen ihrem dreißigsten und vierzigsten Lebensjahr. Im Moment des Todes erinnert sich die Seele daran, ohne dass es ihr bewusst ist. Daher kommt es, dass es kaum jemanden gibt, der äußerlich älter als vierzig zu sein scheint.«
»Interessant! Und jene, die so wie ich vor diesem Moment sterben, sehen so alt aus, wie sie gerade waren?«
Wieder bedachte Gregor ihn mit diesem anerkennenden Blick.
»Ganz genau! Ich kann deine nächste Frage regelrecht spüren, aber ich muss dich leider vertrösten. Wir sollten uns jetzt auf den Weg zur Erde machen. Was meinst du, können deine Fragen warten?«
Das konnten sie eigentlich nicht, dafür hatte das Feuer der Neugierde in ihm schon zu weit um sich gegriffen. Trotzdem nickte er schweren Herzens.
»Möchtest du im Fahrstuhl nicht sprechen? Oder gehen dir meine Fragen generell auf die Nerven?«
Gregor hob die Augenbrauen und presste die Lippen zusammen.
»Ohne dich beunruhigen zu wollen, aber im Fahrstuhl wirst du gleich andere Probleme haben. Keine Sorge, nichts Schlimmes.«
Wenn Gregor wollte, dass er sich keine Sorgen machte, hätte er sich diesen Satz verkneifen sollen. Was sollte das nun wieder bedeuten? Er wollte ihn fragen, aber Gregor hatte bereits die Augen geschlossen und machte einen konzentrierten Eindruck. Kamp vermutete, dass er sich gerade um ihr Transportmittel kümmerte.
Das obligatorische Geräusch aus dem Nebel gab ihm recht. Gregor öffnete die Augen, legte Kamp eine Hand auf die Schulter und führte ihn zum Fahrstuhl.
Kaum dass sie eingetreten waren, packte der Bote ihn bei den Oberarmen.
»Sieh mir in die Augen!«
Kamp fühlte ein ähnliches Unbehagen wie in der Gegenwart des Pavillons und wäre diesem alles durchdringenden Blick, dessen Aufprall er an der Innenseite seines Hinterkopfes förmlich spürte, nur zu gern ausgewichen… aber er konnte nicht. Erneut schloss Gregor die Augen und ließ ihn, zu seiner großen Erleichterung, los. Kamp fragte sich, warum er ihm nicht vorher erzählte, was er im Fahrstuhl mit ihm anstellen würde. Auch wenn er den Boten sehr gern mochte, sein unangemeldet merkwürdiges Verhalten machte ihm Angst.
Der Bote trat einen Schritt zurück und beobachtete ihn. Etwas schien sich zu verändern. Zuerst hielt er es für eine Sinnestäuschung, aber der Prozess setzte sich fort und verschaffte ihm damit Gewissheit. Gregor schien mitsamt dem Raum, in dem sie sich befanden, zu wachsen. Er wurde größer und größer, zeigte ansonsten aber nicht die geringste Regung. Jetzt wusste Kamp wenigstens, was der Bote mit den anderen Problemen meinte, die er hier haben würde.
Als sich sein Kopf etwas unterhalb von Gregors Knien befand, schien der Prozess beendet. Der Bote sah neugierig auf Kamp hinab.
»Wie fühlst du dich?«, wollte der Bote wissen.
»In erster Linie klein. Für die anderen Empfindungen fehlt mir der Wortschatz. Warum bist du so sehr gewachsen?«
Gregor ignorierte seine Frage. »Es geht dir aber gut?«
Kamp hielt inne und machte eine kurze Bestandsaufnahme.
»Ja. Na ja, meine Hüfte schmerzt ein bisschen, aber sonst geht’s.«
Gregor lächelte auf ihn hinab und ging in die Hocke. Trotzdem überragte er ihn immer noch ein ganzes Stück.
»Die Hüftschmerzen kommen daher, dass du die ganze Zeit auf den Hinterbeinen stehst. Die Skelettstruktur von Hunden ist darauf ausgelegt, auf vier Beinen zu stehen. Wenn dir die Schmerzen auf die Nerven gehen, lass dich einfach nach vorne fallen.«
Bei dem abrupten Versuch, an sich hinunterzusehen, fiel Kamp nach vorn und landete… auf einem Paar Vorderpfoten, die er fassungslos anstarrte.
Er war ein Hund! Was mochte passieren, wenn er versuchen würde, sich mit dem rechten Arm am Kopf zu kratzen? Der Versuch scheiterte kläglich. Das, was mal ein Arm war, ließ sich zumindest nicht mehr so bewegen. Stattdessen ruderte er, in einem stark veränderten und eingeschränkten Radius, wild mit dem rechten Vorderbein unterhalb seines Rumpfes umher, was zur Folge hatte, dass er das Gleichgewicht verlor und auf seine rechte Seite fiel. Er war zu verblüfft, um sich darüber zu ärgern.
Gern wäre er sofort wieder aufgestanden, aber damit stieß er
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