Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
setzen.
Ninive war es gelungen, den dritten Auserwählten zu lokalisieren (und sein Geschlecht zu ermitteln: Es war ein junger Mann, jünger als Erik). Imerovigli, eine kleine Stadt an der Steilküste und eines der schönsten Urlaubsziele überhaupt, wenn man sich von der Erhabenheit und Wildheit der Ägäis angesprochen fühlte. Einer ihrer Lehrer am Gymnasium, der immer vor der ganzen Klasse mit seinen Reisen prahlte, hatte einmal zu ihnen gesagt, nach ein paar Wochen Segeln auf diesem stürmischen Meer, dieser Wiege der Mythen und Legenden, fange man an, an Poseidon zu glauben.
Tanya glaubte jetzt schon an ihn, und das nur nach einem kurzen Blick von oben.
Der Airbus landete, von einer kurzen Erschütterung begleitet, auf dem Flughafen von Santorin. Die Landschaft, die am Fenster vorbeiraste, war flache vulkanische Erde, auf der üppige Olivenbäume wuchsen. Am eindrucksvollsten aber war das Licht: Die Sonne hatte eine gleißende, funkelnde Qualität und verlieh den Farben eine Kraft und Ursprünglichkeit, die alles noch prächtiger erscheinen ließen.
Der Shuttlebus brachte sie in weniger als einer halben Stunde nach Imerovigli, es ging fast ununterbrochen bergauf. Tanya hatte sich am Flughafen einen Reiseführer gekauft und alles über diese wunderbare Insel bis ins Detail auswendig gelernt. Sie nahm sich fest vor, eines Tages als Touristin wiederzukommen, wenn sie mehr Zeit und Ruhe hatte und ohne irgendwelche übernatürlichen menschenfressenden Ungeheuer im Nacken. Nichts konnte einem den Urlaub mehr verderben als so was.
»Jetzt kapier ich, warum hier so viele Filme gedreht werden«, bemerkte Erik. Seine Laune hatte sich merklich gebessert, seit sie den Flieger verlassen hatten. »Das Licht ist perfekt. Und die Landschaft äußerst inspirierend: modern und ursprünglich zugleich. Ein Cousin von mir träumt schon immer davon, an den Steilküsten hier einen Kurzfilm zu drehen.«
»Zu meiner Zeit gab es diese ganzen Städte noch nicht«, erzählte Séfora und betrachtete die unzähligen weiß und blau getünchten Häuser, die ihr vorkamen, als wären sie aus einer anderen Zeit. Irgendwo auf ihrer Reise hatte sie eine Schachtel Light-Zigaretten geklaut, und nachdem sie ihr das Rauchen im Flieger nicht gestattet hatten, zog sie jetzt lustvoll den Rauch in ihre Lungen. »Ich war einmal mit meiner Familie hier gewesen, um ein paar Tiere vom Festland herzubringen. Damals gab es auf der Insel nur einen heruntergekommenen Hafen auf der Ostseite, der von den Seldschuken überwacht wurde. Der Rest war Weideland für die Schafe. Die Insel war also nicht sonderlich rentabel.«
Tanya versuchte auszurechnen, wann das gewesen war. Zur Zeit des Niedergangs des Byzantinischen Reichs im elften oder zwölften Jahrhundert? Wahnsinn.
Der Bus brummte geduldig den Berg hinauf, und als die Landstraße erstmals die Ostseite der Insel berührte und sich am Rande einer atemberaubenden Steilküste entlangschlängelte, klebten die drei jungen Leute mit den Nasen an der Fensterscheibe.
Für das, was sie beim Anblick der Küste empfanden, fehlten ihnen die Worte.
Hätte Poseidon die Arme ausgebreitet, um den Furcht einflößenden Ofen des Urfeuers zu umfassen, den Vulkan, der die Erde erneuerte und Zivilisationen zerstörte, dann wäre die Szene wohl ähnlich eindrucksvoll gewesen. Ein Teller blauen Meeres, eingesperrt zwischen den Inseln, umgab das Mal des Nea Kameni, stumpf und dunkel, abseits von den Luxusdampfern vor Thira. Tanya betrachtete den Vulkan, wissend, dass sie das Fossil einer legendären historischen Epoche vor sich sah, und war ungefähr genauso überwältigt wie in dem Augenblick, als Séfora ihr zum ersten Mal ihre Flügel gezeigt hatte.
»Hier will ich mir ein Häuschen kaufen«, entschied sie. Die anderen waren sofort einverstanden.
Imerovigli war ein Dorf wie von einer Postkarte. Es verkörperte so perfekt die Ruhe und Reinheit des Mittelmeers, dass man meinen konnte, es handelte sich um die Kulisse eines Kinofilms. Nur, dass es viel zu viele Leute gab, die meisten von ihnen Touristen, und Läden. Vor allem Läden.
Als die drei jungen Leute aus dem Bus stiegen, staunten sie nicht schlecht, wie sehr alles auf den Tourismus ausgerichtet war, von den Häusern (alle waren gleich gestrichen, ohne Ausnahme) und Windmühlen, den zahlreichen Schmuckläden (mehr als die Hälfte davon Stände, die die Straßen füllten) bis hin zu den Mausoleen und Familienkapellen, deren verzierte Kuppeln überall zu sehen waren.
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