Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
Zwischen den Henkeln lugten ein paar sehr rote Äpfel hervor. »Ich bin mit ein paar Freundinnen zum Frühstück verabredet.«
»Sehen wir uns wieder?«, beeilte sich Erik zu fragen. »Ich meine … wenn du morgen wieder zufällig an dem gleichen Geländer stehen bleibst.«
»Vielleicht. Aber nur zufällig.«
»Genau, zufällig«, murmelte er. Er blickte ihr nach. Wäre ihr Gang noch ein bisschen aufreizender gewesen, nur ein kleines bisschen, hätte sie wohl die angrenzenden Häuser in Brand gesteckt.
Tanya beugte sich aus dem Fenster im zweiten Stock und reckte sich. Ihr zerzaustes Haar ließ vermuten, dass sie gerade erst aufgestanden war.
»Erik?«, rief sie. »Hast du mit jemandem gesprochen?«
»Nein, das war nur … eine Freundin, die ich neulich Abend kennengelernt habe.«
»Wie komisch«, sagte sie. »Von hier oben hat man nämlich nur dich gehört.«
Der Tag zog sich endlos hin. Die Zeiger schleppten sich mühsam über das Ziffernblatt. Tick um Tick, Zahl um Zahl. Immer im gleichen Rhythmus, ohne Eile.
Im Wohnzimmer gab es eine linksdrehende Uhr, eine von denen, die gegen den Uhrzeigersinn laufen und durch einen Spiegel betrachtet werden müssen, wie in manchen Friseursalons. Der einzigartige Apparat übte eine gewisse Faszination auf die jungen Leute aus. Immer wenn sie an der Uhr vorbeigingen, wurden ihre Blicke wie magisch von ihr angezogen. Am Vormittag war es noch nicht so schlimm, aber als die Mittagszeit vorüber war und der Nachmittag Einzug hielt (mit der entsprechend zunehmenden Geschäftigkeit auf den Straßen), wurden die verstohlenen Blicke auf jene verkehrt herum aufgemalten Ziffern immer häufiger.
Séfora war jetzt schon über vierzehn Stunden weg, und sie hatte noch immer kein Lebenszeichen von sich gegeben. Weder sie, noch der Geist in dem Spiegel.
Tanya fing an, sich Sorgen zu machen.
»Sie hat versprochen, Geld aufzutreiben«, sagte Erik. Ihm knurrte der Magen. »Diese unfreundliche Möchtegern-Geisha in der Cafeteria wollte mir nicht mal einen Kaffee anschreiben. Man muss uns die Armut deutlich ansehen.«
»Du bist unmöglich«, schnaubte Tanya. »Séfora könnte etwas zugestoßen sein, und du denkst nur an das Geld.«
»Nein. Ich denke daran, dass es Zeit ist, etwas zu essen. Und wir können uns nicht einmal eine kleine Flasche Wasser leisten«, verteidigte er sich. Die Federn ächzten, als er sich in den nächstgelegenen Sessel fallen ließ. »Natürlich mache ich mir auch Sorgen um Séfora, ich bin ja nicht blöd. Aber immer eins nach dem anderen.«
»Wenn ich nur meine Kreditkarte hier hätte! Oder wenigstens mein Handy, damit ich einen Freund anrufen könnte, der uns Geld leiht …«, klagte Tanya. Auch ihr grummelte der Magen. Aber Séfora hatte ihnen klare Anweisungen gegeben: Wartet in der Pension auf mich. Heute Nacht bin ich zurück.
Aber die Nacht war längst vorbei, der darauffolgende Morgen auch, sogar der Mittag, und von dem Engel fehlte immer noch jede Spur.
Etwas Schlimmes war passiert, sie ahnte es. Ein tragischer Zwischenfall, von dem sie bald erfahren würden, im Guten oder im Schlechten.
Tanya war kurz davor, eine spontane Suchaktion zu starten, als Mauro unvermittelt aufschrie. Der Schrei kam aus dem Badezimmer. Mauro war gerade aus der Dusche gestiegen, und jetzt krümmte er sich auf dem Fußboden, als hätte man ihm ein Messer in den Bauch gerammt.
»Mauro!« Sie kniete sich neben ihn hin. »Was hast du? Was ist passiert?«
Der Junge wies Tanyas Hilfe zurück. Stattdessen lehnte er sich an seine Freundin Rhea, die halb angezogen aus dem Zimmer herüberkam. Erik erschauderte, als er sogar auf ihren Brüsten winzige Schnitte entdeckte.
»Alles gut«, sagte Mauro. »Ich habe nur ihren … Schmerz empfangen.«
»Von wem? Wessen Schmerz?«
Er deutete auf die Zimmertür, die in diesem Augenblick aufging. Séforas blasse Gestalt tauchte im Türrahmen auf.
Tanya wusste nicht, was sie tiefer bewegte: dass ihre Freundin wohlbehalten zurück war, oder dass sie so entsetzlich müde und abgezehrt aussah.
»Séfora!« Tanya rannte auf sie zu und umarmte sie überschwänglich. Der Engel nutzte den Moment dazu, sich auf ihr abzustützen. Erik machte auf dem Sofa Platz und ging ins Badezimmer, um ihr ein Glas Leitungswasser zu bringen (das einzige Getränk, über das sie im Überfluss verfügten).
Der Engel strich sich die schweißnassen Haare aus dem Gesicht. »Keine Sorge, es geht mir gut«, sagte sie, obwohl das offensichtlich gelogen war.
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