Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
wurden und der Junge, den sie für einen romantischen Prinzen gehalten hatte, sich mit dem Alkohol in ein Scheusal verwandelte. Oder vielleicht hatten sie auch das andere jämmerliche Szenario gesehen, als das Mädchen Tanya Svarensko versucht hatte, eine Rockband zu gründen, in dem Glauben, dass sie singen und sich auf einer Bühne bewegen konnte. In der Hoffnung, dass die Wirklichkeit so zuckersüß werden würde wie die Fernsehshows, dass alles toll und wunderbar wäre, sobald sie nur ein Mikrofon in der Hand hielt und sich die Scheinwerfer auf sie richteten. Keine ihrer Freundinnen war aufrichtig genug gewesen. Niemand hatte sie gewarnt.
Momente, die zur peinlichen Chronik ihres Lebens dazugehörten und die zweifellos zum aktuellen Konzept »Tanya« beigetragen hatten. Momente, die sie jedoch, wenn sie könnte, mit einem einzigen Federstrich aus ihrem Gedächtnis löschen würde.
Ein Vogel setzte sich auf eine Blüte und erprobte die Belastbarkeit ihres Stängels. Der Wind brachte die Glocken der Kirche zum Schwingen.
Erik räusperte sich. »Irgendwie braucht der Bus diesmal länger«, stellte er fest.
Tanya nickte. »Scheint so.«
Mauro und seine bessere Hälfte steckten die Köpfe zusammen und starrten ins Leere.
Keiner der beiden würde bis zum nächsten Tag ein Wort sagen.
Wenigstens eine Sache war heute aber allen klar geworden: Sie konnten Engel sein. Aber natürlich waren sie keine Heiligen.
UNTERWEISUNG UND SUCHE
E s war herrlich, wieder fliegen zu können.
An die Erde gefesselt zu sein, war für Séfora die reinste Folter. Von mechanischen oder noch schlimmer, organischen Transportmitteln abhängig zu sein, sich in einer lärmenden und stinkenden Zigarette aus Metall über die Wolken zu erheben … Nein, das war wirklich nichts für jemanden, der schon einmal diese absolute Freiheit genossen hatte. Der zwischen den Realitäten hin und her geflogen war und als unsichtbarer Dunst die Erde besucht hatte, um tröstende Worte in die Ohren der Menschen zu flüstern.
Glücklicherweise war die Wunde weitgehend verheilt. Nur beim Flügelschlagen tat es noch ein bisschen weh, aber dieser Schmerz war erträglich. Ein winziger Preis, den sie für den Luxus des Fliegenkönnens gerne bezahlte.
Dass die Wunde so schnell heilte, hatte sie nicht zuletzt Tanya zu verdanken. Sie war zwar noch keine vollendete Heilerin, sozusagen ein ungeschliffener Diamant, aber ihre Kräfte waren latent vorhanden. Sie hatte es ihr noch nicht gesagt, aber allein Tanyas Gegenwart hatte auf ihre Wunde eine positive Wirkung. Unterbewusst lenkte sie ihre Energie genau dorthin. Das würde zwar Tanya kurzzeitig schwächen, aber für die Gruppe war es das Beste, was ihnen passieren konnte. Hätte Tanya nicht diese Gabe, die gerade in ihr heranreifte, wäre Séfora jetzt nicht unterwegs, zum Tempel.
Bisher lief alles ziemlich gut. Sogar besser, als Ninive und sie es vorausgesagt hatten. Dass Tanya als Heilerin, als Mitglied einer der höchsten Engelschöre, erwacht war, überraschte sie nicht. Auch in Luzifers aufständischen Reihen gab es Heiler, wenn sie auch unter den Rebellen gut versteckt waren. Ihre verlorene Essenz war es, die in dem Mädchen zu Fleisch geworden war. Erik für seinen Teil passte perfekt in das Muster eines Strafengels: Sein aggressives, zorniges, abenteuerlustiges und aufgewecktes Wesen stand in krassem Gegensatz zu Mauros mutloser Antriebslosigkeit. Erik war zum Kämpfen geboren, das sah man ihm an.
Mauro. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem Jungen zurück. Er war das große Rätsel, die Variable, deren Funktionalität nicht mit ausreichender Sicherheit vorhersagbar war.
Auch Ninive war sich nicht sicher, wie sie ihn einordnen sollte. Der Junge hatte das Potenzial, Gebete aufzunehmen. Vielleicht war das auch der Grund, warum er es ganz allein, ohne Führung, in die erste Ausbildungsphase geschafft hatte. Für ihn war es eine große Leistung, so viel stand fest, aber … wäre seine geschlagene Psyche zu so tief greifenden Veränderungen bereit? Und wenn die Stunde der Wahrheit kam, wenn man den jungen Leuten abverlangen musste, das Opfer bereitwillig auf sich zu nehmen, würden sie sich dann auf jemanden verlassen können, der immerzu schwankend am Rande des Abgrunds stand?
Sie würde die Antwort nicht sofort herausfinden.
Im Augenblick blieb ihr nur eins: die Hoffnung. Aber verglichen mit dem, wie die Dinge vor knapp einem Jahr standen, war das schon viel.
Séfora betrachtete die Erde von oben,
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