Boy 7
bloß denken würde, er habe sich das alles nur eingebildet. Wenn er bloß wieder zurückginge, um seinen Kaffeebecher mit dem Schlafmittel zu holen. Wenn Louis bloß an seine Füße dachte, sobald er wieder hinter dem Vorhang stand. Wenn, wenn, wenn ... Ein winziges Wort, von dem alles abhing.
Ich weiß nicht, wie lange ich da gesessen habe, aber irgendwann ging die Tür auf und Louis’ Silhouette tauchte auf.
»Hat geklappt«, sagte er mit einem Grinsen, das schrecklich geisterhaft aussah, weil er sein Gesicht von unten mit der Stablampe beleuchtete.
Wir sind wieder nach oben gegangen, um zu überprüfen, ob das Schlafmittel wirkte. Es dauerte noch ziemlich lange, aber dann gähnte der Wächter immer häufiger und schließlich sank sein Kopf auf den Tisch.
»Buh!«, machte Louis nach einigen Minuten.
Der Wächter blieb bewusstlos.
»Die Alarmschnur?«, fragte ich.
Louis nickte. »Heb seinen Kopf ein Stückchen an.«
Nicht fallen lassen! Ich hatte das Gefühl, an einem Eierlauf beteiligt zu sein.
Louis schob die Alarmschnur bis zu meinen Händen. Dann stützte er das Kinn des Nachtwächters, damit ich die Aufgabe zu Ende bringen konnte. Ich hängte mir die Alarmschnur um den Hals und gemeinsam legten wir den Kopf des Mannes wieder sanft auf den Tisch.
Mission erfüllt!
Ausgelassen rannten wir die Treppe hinunter, in einem Rutsch weiter zur Eingangstür oder in diesem Fall: unserem Ausgang. Ich zog den Pass aus der Tasche und wollte ihn gerade an die Wand halten, als ...
Mein Herz schoss fast durch meine Schädeldecke. Hinter der Glastür bewegte sich etwas! Ein großer schwarzer Schatten mit breiten Schultern und er keuchte.
Noch ein Nachtwächter! Zum Glück hatte er uns den Rücken zugewandt. Ich ließ mich auf die Knie fallen und zog Louis mit hinunter. Das Training auf der Hindernisbahn kam uns jetzt gerade recht; wir mussten ein ganzes Stück robben, bevor wir um die Ecke des Flures kamen. Dann erst wagten wir es, uns wieder aufzurichten.
Louis fluchte leise. »Was jetzt?«
»Vielleicht ist irgendwo ein Notausgang?«, flüsterte ich, während ich mich vor den Kopf hätte schlagen können. Ich meine: Wir hätten natürlich schon während der Vorbereitungsphase unsere Fluchtwege überprüfen müssen.
Wir irrten durch das Gebäude und versuchten es an jeder unbekannten Tür. Der Pass öffnete Dutzende von Schlössern, aber keins führte uns nach draußen.
Louis wurde von Minute zu Minute kleiner und hoffnungsloser. »Gleich ist es zu spät, dann bringen sie mich auf die Krankenstation und ...« In seiner Stimme zitterten Tränen. »Ich will nicht wie die anderen zum Roboter werden.«
Ich strich tröstend über seinen Rücken, aber er reagierte, als wäre meine Hand ein glühender Feuerhaken.
»Du hast leicht reden«, schnauzte er. »Bei dir stand kein Datum und ich, ich ...« Er weinte.
Es war furchtbar zu sehen, wie sich mein cooler Louis in ein Häufchen Elend verwandelte. »Nicht aufgeben«, sagte ich. »Vielleicht ...« Aber mir fiel kein Vielleicht ein. Ich stand nur dumm herum und wusste mir keinen Rat.
Louis schnäuzte sich in seinen Ärmel und wischte sich über die Augen. »Rucksack.«
Ich bekam ein ängstliches Vorgefühl. »Weshalb?«
Er zerrte ihn mir schon von den Schultern, zog den Reißverschluss auf und holte die Flasche mit Salpetersäure heraus. »Wenn man einen Zaun damit flachlegen kann, wirkt sie auch bei Nachtwächtern.«
Es war, als würde mir eine unsichtbare Hand den Magen zusammenquetschen. »Tu das nicht. Der Wächter hat bestimmt eine Alarmschnur.«
»Das ist meine einzige Chance.« Louis warf meinen Rucksack hin und ließ mich einfach stehen. Er lief mit der Flasche zum Ausgang und schraubte unterdessen den Verschluss auf.
»Komm zurück!«, rief ich, so laut ich mich traute.
Ich hätte genauso gut gegen eine Wand reden können. Louis war plötzlich taub.
Ich nahm den Rucksack und folgte Louis zögernd, den Flur entlang, um die Ecke. Dort war der Ausgang. Einen Moment war ich erleichtert: Er konnte gar nicht zu dem Nachtwächter gelangen, denn ich hatte den Pass für die Tür.
Falsch gedacht. Dieser verrückte Kerl klopfte einfach ans Fenster!
Reflexartig stürmte ich in eine Toilette und spähte durch den Türspalt. Ich sah, wie alles geschah. Der Nachtwächter, der öffnete. Louis, der seinen Arm hob und die Säure über den Wächter schütten wollte. Keine Chance. Louis ist schnell, aber der Wächter war schneller. Er trat ihm die Flasche aus den
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