Boy Nobody: Ich bin dein Freund. Ich bin dein Mörder. (German Edition)
noch etwas anderes. Etwas, das du nicht wissen kannst.«
»Dann klär mich auf.«
Sie sieht sich im Park um.
»Ich kann nicht.«
»Du meinst wohl, du willst nicht.«
»Mach’s mir doch nicht so schwer.«
Das habe ich schon mal gehört. Aber wo?
Im Kino. Genau. So was sagen Mädchen im Film.
Wenn sie mit einem Jungen Schluss machen.
Sam sieht mich an, aber ganz anders als gestern Abend. Irgendwas hat sich geändert.
Ich muss mich auf meinen Auftrag konzentrieren.
Ich versuche, alles andere auszublenden. Die beunruhigenden Fragen. Die Gründe für diese Fragen.
Ich taste nach dem Kuli in meiner Brusttasche. Ich kann ihn durch das Leder fühlen.
Es gibt ein neues Zielobjekt.
Hat Mutter gesagt.
Es steht direkt vor mir.
Plötzlich spüre ich einen Kloß im Hals und einen Druck hinter den Augen. Ein seltsames Gefühl.
Was ist das?
Ich war zwölf, als es zum ersten Mal passierte.
Mike hatte mich in das fremde Haus gebracht. Wir gingen eine lange Treppe hoch. Mit Holzstufen, die nicht knarrten, und einem Geländer, das nicht wackelte. Dann durchquerten wir einen schmalen Flur. Der Boden hatte nicht den kleinsten Kratzer.
Normale Häuser sind voller Geräusche. Sie knacken und knarzen. Sie tragen die Spuren ihrer Bewohner. Sie leben.
Dieses Haus nicht.
Dieses Haus war irgendwie tot.
Mike führte mich zu einer Tür. Aber er öffnete sie nicht.
Das musste ich selber tun. Ich sollte selbst entscheiden, ob ich hineinging oder nicht. Das war die erste von vielen Entscheidungen, die ich bald zu treffen hatte.
Die Tür schwang geräuschlos auf.
Es war ein Arbeitszimmer. Dunkles Holz, Regale mit Büchern und Fotos in Silberrahmen. Ein großes Fenster mit Blick auf eine Baumgruppe in der Ferne. Sonnenlicht flutete herein und zeichnete helle Flecken auf einen mächtigen Mahagonischreibtisch.
Dahinter saß eine Frau.
Mutter.
»Herzlich willkommen«, sagte sie.
Und lächelte.
Ich war zwölf Jahre alt. Mein Vater war tot, meine Mutter verschwunden.
Ich war an einem fremden Ort, in einem fremden Haus. Und vor mir saß eine fremde Frau, die mich anlächelte.
Ich wusste, dass sie mich in der Hand hatte, dass ich in Gefahr war, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Also lächelte ich zurück. Ich lächelte die Frau an, die ich eines Tages Mutter nennen sollte.
Dieser Tag hat sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt. Dieser Moment. Dieses Lächeln.
Und dann überkam mich eine seltsame körperliche Empfindung.
Nein, keine Empfindung. Das weiß ich jetzt.
Ein Gefühl.
Angst.
Das ist es, was ich in diesem Moment fühle.
»Du musst dich von mir fernhalten«, sagt sie. »Du bist in Gefahr.«
Sie streckt die Hand aus und berührt mich am Arm.
»Ich will nicht, dass dir irgendwas passiert. Das meine ich ernst.«
Damit dreht sie sich um und geht davon.
Mein Herz rast.
Ich bin im Riverside Park. Kinder rennen über den Spielplatz, treffen zusammen und stieben wieder auseinander wie ein Schwarm Vögel.
Die Vögel kreischen.
Bin ich wirklich in Gefahr?
Die Mütter reagieren nicht auf das Geschrei ihrer Sprösslinge. Teilnahmslos sitzen sie da, mit müden Augen und einem falschen Lächeln.
Die Kinder kreischen.
Gedankenverloren gehe ich durch den Park. Wie lange schon?
Der Boden unter meinen Füßen fühlt sich merkwürdig an. Der Wind streicht kühl über meine Stirn.
Warum kühl?
Ich schwitze. Deshalb fühlt sich der Wind kühl an.
Sei vorsichtig.
Hinter mir höre ich Schritte.
Der Schatten.
Ich drehe mich um.
Aber es ist nicht der Schatten. Die Energie kommt aus einer anderen Richtung.
Sam
, denke ich.
Sie hat es sich anders überlegt. Sie ist zurückgekommen, um mit mir zu reden. Gemeinsam finden wir bestimmt eine Lösung.
Aber ich sehe auch keine Sam.
»Zach«, sagt eine Stimme hinter mir.
Es ist eine Stimme, die ich gut kenne.
Mein bester Freund. Er spricht mich mit einem Namen an, den ich seit Jahren nicht mehr gehört habe. Ein Name, den ich vor langer Zeit in mein Unterbewusstsein verbannt habe.
Mein Name.
»Zach«, sagt die Stimme noch einmal.
Es ist Mike.
Ich drehe mich zu ihm um.
Das ist ein Fehler.
Irgendetwas blendet mich.
Als ich wieder zu mir komme, merke ich, dass ich mit Klebeband an einem Stuhl festgebunden bin, meine Arme an den Lehnen, meine Beine an den Stuhlbeinen. Eine fesselnde Umarmung, schießt es mir durch den Kopf.
Wie lange war ich bewusstlos? Ich habe keine Ahnung, denn es gibt in diesem Raum keine Fenster, keinen Lichteinfall, an dem ich die
Weitere Kostenlose Bücher