Bragg 04 - Dunkles Verlangen
Earl errötete, schien aber alles in allem recht erfreut. »Jane«, sagte er einige Augenblicke später, als die Kutsche bereits vor dem grünen Bootshaus mit dem Schindeldach hielt, »kannst du dich noch an die Geschichte erinnern, die ich dir letzte Nacht erzählt habe?«
Jane blickte ihn neugierig an. »Ja, natürlich.«
Chad unterbrach die beiden und fragte, ob er sich die Boote anschauen dürfte. Der Earl nickte, und sein Sohn schwang sich aus der Kutsche. Der Earl und Jane machten keine Anstalten, ihm zu folgen.
Er blickte sie durchdringend an. »Die Frau, Jane«, sagte er, »die Frau ist meine Mutter.«
Jane rang um Atem.
»Ich bin der junge.«
Jane sah ihn an, ihre Gedanken überschlugen sich, und sie verstärkte instinktiv den Druck, mit dem sie seine Hand festhielt. »Oh, Nicholas, was für ein Kreuz hat dir das Schicksal da nur aufgebürdet.«
Er sah sie an.
»Liebling«, rief sie und sprach ihn zum ersten Mal mit diesem Kosewort an, »dann hast du dich also in all diesen Jahren für etwas bestraft, was du gar nicht zu verantworten hast?« Sie streichelte seine Wange.
»Dann macht es dir also nichts aus?«, fragte er mit belegter Stimme.
»Es tut mir weh, dich so leiden zu sehen«, rief sie. »Wie konnte man dir diese schreckliche Geschichte nur erzählen?« Sie war plötzlich wütend. Alles fügte sich nun zu einem klaren Bild. Das war also die Last gewesen, mit der er sich herumgequält hatte und die sie so oft gespürt und indirekt hatte erfahren müssen.
»Niemand hat mir davon erzählt«, sagte Nick leise. »Ich habe es selbst herausgefunden, und zwar am Tag, bevor ich in den Krieg gezogen bin. Sie wissen nicht mal, dass ich die Wahrheit kenne. Mein Vater«, er zögerte, »oder besser Derek hat keine Ahnung, dass ich inzwischen weiß, dass nicht er, sondern Chavez mein Vater ist.«
Jane drückte seine Hand. Seine Stimme war belegt. Es war deutlich zu hören, wie sehr ihn diese Erinnerungen bedrückten.
»Liebling, ich bin ganz sicher, dass er dich wie einen Sohn liebt. Du bist doch sein Sohn. Schließlich hat er dich von Anfang an aufgezogen.«
»Er ist ein großer Mann«, sagte der Earl.
Jane verstand plötzlich, worauf er hinauswollte. »Er ist dein Vater, Nicholas«, sagte sie hartnäckig. »Wie du heute bist, verdankst du allein ihm. Du musst ihn unbedingt besuchen«, rief sie. »Oh wie furchtbar. Sicher spürt er, dass irgendetwas zwischen euch nicht stimmt. Du musst ihm sagen, dass du alles weißt.«
»Jane«, sagte der Earl. »Du glaubst doch hoffentlich nicht, dass ich bin wie er?«
Jane wusste genau, wer mit »er« gemeint war – der Comanchero. »Du bist freundlich und gut. So etwas darfst du nie wieder sagen.«
»Ich habe dich beinahe vergewaltigt«, sagte er sehr leise. »Mein Gott. Ich wollte dich schon, als du erst siebzehn warst, fast noch ein Schulmädchen. Ich konnte schon damals an nichts anderes mehr denken. Wie verdorben ich doch bin.«
Sie legte ihm die Hand auf den Mund. »Wir wollten uns gegenseitig, wie es nun einmal zwischen Männern und Frauen der Fall ist, die sich begehren. Das hat doch nichts mit Verdorbenheit zu tun. Nicholas, das war eine schicksalhafte Fügung. Unser Schicksal.«
Er zog sie in seine Arme. »Oh Gott«, rief er und drückte sein Gesicht an ihre Wange, »womit habe ich dich bloß verdient?«
»Unsinn, Nicholas«, sägte Jane und ließ ihre Finger durch sein Haar gleiten. »Es verhält sich genau umgekehrt: Womit habe ich dich verdient?«
Ihre Blicke trafen sich. Beide hatten Tränen in den Augen.
Der Earl holte tief Luft. »Nun«, sagte er hustend. »Sollen wir?«
Der Diener wartete in einer angemessenen Entfernung. Der Earl gab ihm ein Zeichen und ließ Jane vor sich aus der Kutsche steigen. Als sie dann Chad erreichten, tätschelte Nick ihm den Kopf. »Komm, mein junge, jetzt suchen wir uns ein schönes Boot.«
»Oh ja!«, schrie Chad und war begeistert. Er rannte zu den Booten, und der Earl folgte ihm. Dann blieb Nick stehen und blickte sich um.
»Warte hier, Jane.« Seine Worte klangen achtlos dahingesprochen, aber seine Augen sagten etwas völlig anderes. Sie verrieten die tiefen Gefühle, die ihn bewegten. »Dauert nicht lange.«
Jane nickte. Während der Earl ein Boot organisierte, wurde ihr allmählich die ganze Bedeutung dessen bewusst, was sie soeben erfahren hatte. Und so reifte in ihr sehr schnell der Entschluss, ihn für immer von den Schuldgefühlen zu befreien, die er empfand, weil er Chavez’ Sohn war. Außerdem
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