Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
kommt darauf an, was Sie darunter verstehen.«
»Wissen Sie, was Lisa Haag gestern vorhatte?«
»Sie ist zu ihren Eltern gefahren, nach Schwäbisch Hall, denke ich. Das hat sie mir jedenfalls erzählt.«
»Und mit wem sie sich dort treffen wollte, wissen Sie das auch?«
»Ja, mit wem wohl? Mit ihren Eltern, oder?«
»Das schon, ja«, sagte Braig. »Ein Herr Meisner, kennen Sie den?«
»Meisner? Nein.«
»Der Name sagt Ihnen nichts?«
»So auf die Schnelle, nein. Warum wollen Sie das alles von mir wissen? Wieso fragen Sie nicht Lisa selbst? Ihr ist doch nichts passiert?«
»Doch«, antwortete Braig, »leider, doch. Ich muss Sie dringend persönlich sprechen und mir Lisa Haags Zimmer anschauen. Kann ich das heute noch tun?«
»Lisas Zimmer anschauen? Mein Gott, jetzt sagen Sie schon was passiert ist!«
»Ihr ist etwas zugestoßen.«
»Aber doch nicht …«
»Hören Sie, was passiert ist, werde ich Ihnen persönlich erzählen, einverstanden? Wann kann ich zu Ihnen kommen, so in zwei Stunden etwa, wäre das möglich?«
»Zwischen elf und zwölf? Okay, ja, dann kann ich vorher noch einkaufen. Aber Lisa ist doch nicht …«
Braig vertröstete die junge Frau auf das persönliche Gespräch, ließ sich von ihr beschreiben, wo die Schelling-Straße lag, ging zum Computer. Er druckte die Verbindungen nach Tübingen aus, sah, dass es zu einem kurzen Frühstück reichte, trat in die Küche.
»Das Mädchen ist wirklich schön wie ein Engel«, sagte Ann-Katrin, auf ein Bild in der Zeitung deutend.
Er beugte sich zu ihr nieder, betrachtete das Passfoto, das neben dem Artikel über Lisa Haags Tod abgedruckt war, ärgerte sich augenblicklich darüber, dass es einem Journalisten gestern Abend noch gelungen war, sich ein Foto des Mädchens zu besorgen, nickte. »Wie ich es dir beschrieben habe.«
»Sie spekulieren über die Hintergründe des Mordes.«
»Sie spekulieren?« Braig griff nach der Thermoskanne, schenkte sich Kaffee in seine Tasse. »Ja, das tun sie gern.
Auch wenn sie nichts wissen, nicht über einen einzigen Anhaltspunkt verfügen. Spekulieren. Aufbauschen. Einen Elefanten aus einer Maus machen. Das lieben sie. Ja.« Er seufzte laut.
»Was hast du vor?«
Braig zog sich einen Stuhl her, nahm Platz, schmierte sich ein Brot. »Ich fahre nach Tübingen zu der jungen Frau, mit der sie zusammen wohnte. Ich will mit ihr sprechen und mir Lisa Haags Zimmer ansehen. Vielleicht kann sie mir weiterhelfen.« Er aß von dem Brot, wartete, bis sie einen Artikel zu Ende gelesen hatte. »Du gehst zu Theresa?«
»Wie wir es besprochen haben. Sie probt mit ihrer Band für die Lange Nacht heute Abend. Du schaust, dass es dir reicht?«
Braig spürte den Druck seiner beruflichen Verpflichtungen, versuchte, jeden Gedanken an das tote Mädchen zu verdrängen. Er wusste, wie sehr Ann-Katrin sich auf die einmal im Monat unter der Verantwortung ihrer Schwester in deren Kirchengemeinde veranstaltete Lange Nacht freute, hatte ihr versprochen, auch heute Abend wieder daran teilzunehmen. Live-Musik moderner Bands, Tanz, gemeinsames Essen und Trinken, Vorträge und Meditationen zu wechselnden Themen standen bis weit in die Nacht hinein auf dem Programm. So skeptisch er sich diesen als moderne Gottesdienste deklarierten Events anfangs genähert hatte, musste er inzwischen zugeben, nicht nur Gefallen daran gefunden, sondern auch in diesem Bereich großen Respekt vor Theresa Räubers Arbeit entwickelt zu haben. Entgegen seiner ursprünglichen Befürchtungen hatte sich jede Lange Nacht bisher absolut frei von religiöser Vereinnahmung und Indoktrination erwiesen, sie hatte auch jedes klerikalen Gesülzes entbehrt, das er schon immer verabscheute. Er musste sich darum bemühen, diesen Termin zu realisieren, schon allein, um seiner Lebensgefährtin einen längst versprochenen Gefallen zu erweisen. Die Abende, die sie gemeinsam verbrachten, waren aufgrund seiner immensen beruflichen Belastungen selten genug.
»Thomas Weiss, Katrins Partner, arbeitet im Vorbereitungsteam mit. Vielleicht kommt sie ebenfalls«, fügte sie hinzu.
»Ich werde versuchen, pünktlich zu sein«, versprach er, das flaue Gefühl der Furcht in seinem Inneren verdrängend, seinen Worten eventuell nicht nachkommen zu können. Er konnte nur hoffen, dass die Fahrt nach Tübingen Hinweise auf die Hintergründe des Verbrechens an Lisa Haag liefern, ihm vielleicht sogar entscheidende Informationen zum Geschehen unterhalb der Comburg vermitteln würde. Schließlich war er
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