Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
– wenn auch unruhigen – Schlaf versunken, den Anblick des getöteten Mädchens vor Augen, gegen die Fenster preschende Windböen und den immer nur für wenige Minuten verebbenden Autolärm auf der Straße im Ohr. Was ist das für eine Welt, was sind das für Existenzen, die ihren jüngsten, kaum ins Leben getretenen Mitgeschöpfen solches antun? Was muss mit einem Menschen geschehen sein, in welchem Morast von Hass und Aggressionen muss er sich verfangen haben, dass er sich zu dieser Tat hinreißen lassen kann? Braig war unwillkürlich wieder jener grauenvolle Mord in den Sinn gekommen, der sie im letzten Sommer über Wochen hinweg in Atem gehalten hatte: Ein 19-jähriger Schüler war von zwei 18-jährigen Männern am späten Abend auf eine Wiese am Rand seines Heimatortes im Remstal gelockt und dort – im wahrsten Sinn des Wortes – totgeprügelt worden, aus Eifersucht, wie sie später festgestellt hatten. Zwei Tage nach dem brutalen Geschehen hatten sich die beiden Täter gemeinsam mit einem weiteren jungen Mann daran gemacht, die Leiche in einer Lagerhalle in Bad Cannstatt zu zerstückeln – nur wenige hundert Meter vom Landeskriminalamt entfernt. Nochmals zwei Tage später waren die Männer dann mit den Leichenteilen, Blumenkübeln und Zementsäcken in der Wohnung einer Bekannten erschienen und hatten die sterblichen Überreste dort in ihrem Badezimmer in die Blumenkübel einbetoniert, um sie anschließend im Wasser des Neckars und einem abgelegenen Waldstück zu entsorgen. Braig spürte heute noch Übelkeit in sich aufsteigen, wenn er an die damaligen Ermittlungen dachte. Abgründe von Hass und Aggressionen hatten sich urplötzlich aufgetan, Berge von unbewältigten Emotionen, in deren Strudel Menschen sich in Bestien verwandelt hatten. Wie im Fall des getöteten Engels unterhalb der Comburg?
Unruhig, von Albträumen geplagt, hatte er sich hin und her gewälzt, war erst kurz vor Neun am Morgen zu sich gekommen, Ann-Katrins sanfte Hände auf seiner Stirn. Unverhofft dem Abgrund einer wirren Hölle entrissen, hatte er überrascht zu ihr aufgesehen, ihre Worte erst nach zweimaliger Wiederholung verstanden.
»Was ist mit dir los?«
»Mit mir?«, fragte er. »Was soll mit mir los sein?«
»Du hast geschrien. Zweimal. So laut, dass ich Angst bekam.«
Er fuhr sich übers Gesicht, versuchte, sich zu erinnern, ohne Erfolg. »Ich muss geträumt haben.«
»Das tote Mädchen?«
»Wie sie auf dem Boden liegt, neben dem Baum.« Noch in der Nacht, unmittelbar nachdem er nach Hause gekommen war, hatte er es ihr erzählt.
»Die armen Eltern. Hoffentlich kommen sie über ihren Tod hinweg. Wenn ich daran denke, dass unserem Kind …« Sie senkte den Blick, strich mit der Handfläche über ihren Bauch.
»Unser Kind?«, fragte er, leicht verwirrt.
»Ich merke jeden Tag, wie sich die Welt für mich verändert. Von dieser Warte beurteilst du vieles ganz anders. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich an meine Mutter denke und ihre Worte im Ohr habe, Wünsche und Ermahnungen, die mich damals fast zur Weißglut brachten. Und jetzt muss ich zugeben, dass ich sie im Nachhinein immer öfter verstehe und ihr zustimme, so unvorstellbar mir das früher auch schien.«
Braig versuchte, endgültig wach zu werden, rieb sich die Augen.
»Wie haben sie reagiert?«, fragte sie.
»Lisa Haags Eltern?«
Ann-Katrin Räuber nickte.
»Die Mutter war völlig daneben, kurz vor dem Zusammenbruch. Sie hat sofort begriffen, was mit ihrer Tochter geschah. Der Vater …« Er schwieg einen Moment, holte sich die Szene vom Vorabend wieder vor Augen. »Ich glaube, er versuchte, die schreckliche Nachricht, die ich ihm brachte, nicht an sich heranzulassen, sich vor ihr abzuschotten. Die Realität auszublenden, wenn du verstehst.«
»Du hegst einen Verdacht gegen ihn?«
Er musterte sie überrascht, ließ sich auf ihre Andeutung ein. Albrecht Haag als Mörder seiner eigenen Tochter? Der Vater des Mädchens als Täter? So fern, wie es auf den ersten Blick anzumuten schien, lag der Gedanke nicht. Streitereien, Konflikte, Körperverletzungen und Totschlag resultierten in der überwiegenden Anzahl der Fälle innerhalb persönlicher Beziehungen – die Aussagen der Kriminalstatistik waren unbequem, aber eindeutig. Nirgendwo gab es so viele tätliche Auseinandersetzungen wie im direkten Umfeld, im Verwandten- und Bekanntenkreis. Selten genug handelte es sich bei den überführten Tätern eines Gewaltverbrechens um völlig Fremde, dem Opfer Unbekannte
Weitere Kostenlose Bücher