Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
Kommentar stehen, eilte aus dem Raum, dann aus dem Laden, schließlich aus der gesamten Mall. Er wich laut miteinander scherzenden jungen Paaren, die keine Veranlassung sahen, auf den Weg zu achten, aus, kämpfte sich an müde nach Hause wankenden, schwer bepackten Konsumenten vorbei. Draußen, wenige Meter vom Eingang entfernt, pumpte er frische Luft in seine Lungen, griff dann nach seinem Handy, gab Doldes Nummer ein. Der Techniker schien von den Anstrengungen des Tages nicht weniger erschöpft als er, ließ ihn mehrere Sekunden warten.
»Du bist noch im Amt«, eröffnete er unvermittelt, ohne jede Begrüßung, das Gespräch.
»Ich war an der Tür«, antwortete der Kollege.
»Dann habe ich noch mal Glück gehabt ». Braig unterbrach seinen Wortschwall, schnappte nach Luft. »Diese Tina ist es nicht. Du musst noch einmal in Meisners Kartei nachsehen. Angeblich nennt sich die Nummer Zehn auch Tina. Sie wird offiziell als Christina ausgewiesen.«
»Du hast die Frau überprüft?«
»Ich habe mit ihr gesprochen. Das reicht.« Er ersparte sich jeden weiteren Kommentar, hörte den Techniker am anderen Ende auf einer Tastatur klappern, wartete auf dessen Antwort. Menschen eilten an ihm vorbei, aus dem Einkaufszentrum kommend, andere liefen auf den Eingang zu. Wenige Meter entfernt hupte ein Auto.
»Christina Schaufler, Angel Number ten«, meldete sich Dolde.
»Die Telefonnummer und die Adresse?«
»Langsam, langsam. Ich muss erst die andere CD einlegen.«
Braig atmete tief durch, versuchte, seine Ungeduld zu zügeln. Das Auto in seiner Nähe hupte erneut, dann sah er eine Frau aus der Dunkelheit auftauchen und winkend auf den Wagen zulaufen. Sie trug eine Tasche in der Rechten, öffnete die Beifahrertür, verschwand im Inneren des Fahrzeugs.
Braig hörte die Geräusche eines Zuges, schaute nach links zur Bahnlinie, sah eine S-Bahn in den Bahnhof einfahren. Sie bremste stark ab, kam einen Steinwurf von ihm entfernt zum Stehen. Im selben Moment quietschten unmittelbar vor ihm die Reifen eines rasant startenden Fahrzeugs, dann tat es einen ohrenbetäubend lauten Knall. Braig schrak zusammen, fuhr sich erschrocken über den Mund. Er spürte das heftige Pochen seines Herzens, schaute auf. Keine zwanzig Meter vor ihm war das Auto einem anderen voll in die Seite geprallt.
»Christina Schaufler«, erklärte Dolde, »wohnt in Tübingen in der Eugenstraße. Ihre Handynummer … gib sie ein?«
Braig riss sich von dem Geschehen in seiner Umgebung los, hielt die Nummer fest. »Ich danke dir.«
Er sah, wie Menschen von allen Seiten zur Unfallstelle rannten, nahm die beiden seltsam verquer auf der Fahrbahn stehenden Autos wahr. Zwei Männer waren ausgestiegen, von den Scheinwerfern des einen Fahrzeugs angestrahlt, heftig mit den Händen gestikulierend und aufeinander einbrüllend. »Du Arschloch …«, schallte es laut zu ihm her.
Braig versuchte, nicht auf die beiden Kampfhähne zu achten, bat Dolde um einen letzten Gefallen. »Wenn du mir das bitte noch erledigen könntest … Diese Engel … Gibt es noch weitere Christinas? Entschuldige!«
Der Techniker ließ einen lauten Seufzer hören, versprach, sich sofort an die Überprüfung zu machen und ihm im Erfolgsfall gegen Abend noch Bescheid zu geben, beendete dann das Gespräch. Zwanzig Sekunden später hatte Braig Christina Schaufler in der Leitung.
20. Kapitel
Der Unterschied zwischen den beiden Frauen hätte kaum gewaltiger ausfallen können. Krass, überlegte Braig, müsste ich es im Jargon der Jugendlichen ausdrücken, mir fiele kein besserer Ausdruck ein. Die beiden Frauen waren zwar fast gleichaltrig – jedenfalls den Aufzeichnungen in Meisners Akten zufolge – doch so grundverschieden, dass diese Differenz nur mit einer plakativen Wortwahl zu verdeutlichen war. Grundverschieden nicht nur in Bezug auf ihr Aussehen, sondern auch hinsichtlich ihrer psychischen Reife. Dort das abschreckend mit Schminke zugekleisterte Dummchen, hier die selbstbewusste, mit scharfem Verstand argumentierende Frau. Er kam nicht dazu, darüber zu spekulieren, ob er Tina Etzel mit diesem Urteil Unrecht tat, sah sich von seiner neuen Gesprächspartnerin nach wenigen Worten voll in Beschlag genommen.
»Mein Gott, Angel No. Ten, ersparen Sie sich doch das Gesülze!«, hatte sie ihn empfangen, nachdem er vom Südausgang des Tübinger Hauptbahnhofs in – wie von ihr angekündigt – weniger als fünf Minuten zu ihrer Wohnung in der Eugenstraße gelaufen war. Die ruhigen Straßen und
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