Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
starrte ihn an, sagte kein Wort.
»Frau Etzel«, polterte er, von zunehmender Wut getrieben, »wann haben Sie das geschrieben? Und warum?«
Sie schaute ihm in die Augen, schüttelte den Kopf. Der süßliche Duft waberte noch intensiver in seine Nase. »Des han i net gschriebe«, sagte sie dann, langsam, wie in Zeitlupe, »wieso denn au, des isch doch totaler Quatsch, was do stoht.«
Braig verstand kein Wort. »Was ist Quatsch?«
»Wieso sollt i dem Nico drohe? Könnet Sie mir des sage? Der Nico isch ein wunderbarer Mann«, erklärte sie voller Überzeugung, »i han doch alles ihm zu verdanke, dass i so weit bis auf den achte Platz komme bin. Der setzt sich doch bei jedem neue Wettbewerb für uns ei, gibt uns Tipps und Ratschläg und isch für mi inzwische wie mein zweiter Vadder. I bin der Angel Number Eight, wisset Sie des net? Was glaubet Sie, wie stolz die hier im Lade alle auf mi sind, die hent die Number Eight unter sich, jeden Tag! Und viele Kunde kommet bloß, um mi zu sehe! I han sogar scho abote, Autogramme zu schreibe, aber mein Chef meint, i soll no warte, vielleicht schaff i es noch zur Number Five oder sogar noch höher! Was glaubet Sie, wie dann die Leut in de Lade stürmet, um mi zu sehe. Und dann bin i au bereit, Autogramme zu schreibe, dann garantiert. Aber wenn Sie heut scho eins wellet …« Sie schaute ihn erwartungsvoll an.
»Wie bitte?« Braig glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Autogramme?« Er sprang von dem Stuhl auf, musste an sich halten, nicht laut zu werden. »Verstehe ich das richtig, dass Sie das nicht geschrieben haben wollen?« Er donnerte mit seinem Finger auf das Papier auf dem Tisch, bis ihm die Hand schmerzte.
»I sags Ihne doch: Wieso sollt i so en Quatsch schreibe? Bald bin i die Number Five und dann schreib i Autogramme …«
Er musterte eindringlich ihr Gesicht, verlor den letzten Rest eines Zweifels am Wahrheitsgehalt ihrer Aussage. So abstrus ihre Worte auch klangen – das war keine Show, kein aufgesetztes Jung-Mädchen-Geplapper, sondern ehrliche Überzeugung, wenn es auch schwer fallen mochte, es als Aussage eines halbwegs erwachsenen Menschen zu akzeptieren. Ihre bodenlose Naivität war nicht gespielt, sie kam aus tiefstem Herzen. Wenn er seiner langjährigen Erfahrung als Ermittler vertrauen konnte – und diese Grundbedingung war fundamental für die einigermaßen erfolgreiche Ausübung seines Berufs – dann wurde ihm, so schwer es auch fallen musste, der Frau vorurteilslos Glauben zu schenken, hier keine Lüge aufgetischt, sondern die Auffassung einer zutiefst in pubertären Vorstellungen befangenen naiven Seele präsentiert. Die junge Frau vor ihm schauspielerte nicht, sie glaubte wirklich, was sie sagte – auch wenn das nur schwer nachvollziehbar war. Die einzige Konsequenz, die er diesem Gespräch entnehmen konnte, bestand in der Tatsache, dass Tina Etzel das Schreiben an Meisner weder verfertigt noch unterzeichnet hatte. Wer aber hatte es dann – gemeinsam mit Lisa Haag – getan?
Bevor er sich lange auf die Frage einließ, war er sich bewusst, wo die Antwort zu finden war: Es musste sich um eine Verwechslung handeln. Eine Verwechslung, was den Vornamen der Briefschreiberin anbetraf.
»Sagen Sie, der Name Tina, es gibt viele junge Frauen, die so heißen, oder?«
Sie schaute ratlos zu ihm auf.
»Konkret gefragt: Gibt es unter den Angels noch andere Frauen mit dem Namen Tina?«
»Außer mir?«
Braig nickte.
»Ja, schon. Die Tina, also der European Angel Number Ten, die heißt au so. Also eigentlich Christina, aber niemand nennt die so.«
Tina als Rufname, Christina als offiziell eingetragene Version. Natürlich, daran hatten sie in der Eile nach der Entdeckung des Drohschreibens nicht gedacht. »Christina … , wie heißt sie mit Nachnamen?«
Die junge Frau drehte ihr Gesicht nach allen Seiten, als suche sie irgendwo an einer der Wände des Raumes die richtige Antwort, schaute dann ratlos zu ihm her. »Sie fraget Sache … Mir nennet sie nur Tina, mehr …«
»Wissen Sie, wo sie wohnt?« Er ersparte es sich, auf eine Antwort zu warten, ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. »Dann bedanke ich mich für die Auskunft.«
Er spürte die innere Unruhe, die sich seiner aufs Neue bemächtigte, wollte weg aus dieser aus unzähligen Flakons zusammengemischten Parfümwolke, benötigte einen großen Schwall frischer Luft.
Meisners Kartei. Sie mussten sie noch einmal gründlich überprüfen.
Braig ließ den Engel Nummer Acht ohne jeden weiteren
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