Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
benutzen, um einigermaßen fit zu bleiben, im Moment kam es ihm auf jede Minute an. Er eilte in sein Büro, griff nach seinen Unterlagen und der Jacke, rief die Fahrbereitschaft an, bat um einen Wagen zum Cannstatter Carré.
»Die paar Meter?«, knurrte der Kollege.
Braig gab keine Antwort, lief wieder zum Fahrstuhl, nahm den Weg zum Ausgang. Er gab seine Kennkarte ein, passierte die Sperre. Als er auf die Straße trat, nahm er erst richtig wahr, wie dunkel es bereits war. Zwanzig vor sechs. Die Januar-Nacht war längst angebrochen. Er sah den Dienstwagen wenige Meter entfernt warten, nahm neben dem Fahrer Platz.
»Zum Carré hier in Cannstatt, ja?«
Braig nickte, schnallte sich fest. »Ich fürchte, eine Frau ist in Gefahr«, sagte er.
»Das haben wir gleich«, meinte der Kollege.
Hoffentlich, überlegte er, den Drohbrief im Sinn. Jetzt, während der Arbeit, wird er es wohl kaum wagen, ihr etwas anzutun. Nicht in einer Drogerie mitten unter wer weiß wie vielen Kunden. Er schaute nach draußen, sah unzählige Passanten auf dem Weg zum Bahnhof, in die Innenstadt, nach Hause. Jetzt um diese Zeit ist sie sicher, solange so viele Menschen unterwegs sind. Aber später, nach sieben? Ich muss Polizeischutz für sie anfordern, überlegte er, noch haben wir Meisner nicht, noch wissen wir nicht, ob und wann er sich auch sie vorzuknöpfen gedenkt. Vielleicht auf dem Nachhauseweg, im Dunkeln, wenn sie schon bis in die Nacht arbeitet, wird er sich diese Chance kaum entgehen lassen. Möglicherweise liegt er schon irgendwo draußen auf der Lauer.
Das Auto näherte sich der Unterführung kurz vorm Cannstatter Bahnhof, wenige Meter vorm Carré entfernt.
»Ich steige hier aus«, sagte Braig, »vielen Dank. Sie können zurückfahren. Ich weiß nicht, wie lange es dauert.«
Er gurtete sich los, stieg auf die Straße, spürte die kalte Luft. Wenigstens abends und in der Nacht herrschten noch einigermaßen normale Temperaturen, wenn man tagsüber schon glauben musste, beim Januar handle es sich um den ersten Frühsommermonat. Er hüllte sich in seine Jacke, sah den klobigen Bau des Einkaufszentrums vor sich, schritt kräftig aus. Ein ganzer Pulk von Fußgängern begleitete ihn über den Vorplatz, strebte mit ihm dem Haupteingang zu. Obwohl der erst vor wenigen Jahren gebaute Komplex des Carrés nur wenige Gehminuten vom Landeskriminalamt entfernt lag, suchte Braig die Geschäfte dort nur äußerst selten auf. Er bevorzugte die wenige hundert Meter weiter gelegene Cannstatter Fußgängerzone, die mit ihren schmalen Gassen, verwinkelten Innenhöfen und alten Fassaden dem Flair mittelalterlicher Stadtkerne in nichts nachstand. Oft genug nahm er den Weg an der Weinstube Klösterle vorbei, einem pittoresken Fachwerkhaus mit einem solch urigen Erker, wie er es selten gesehen hatte, fühlte sich dann in jene Jahrhunderte versetzt, in denen das Klösterle, 1463 erbaut, als Sozialstation des mildtätigen Frauenordens der Beginen diente. Eine Inschrift wies das zauberhafte Bauwerk als ältestes Wohnhaus Groß-Stuttgarts, zudem auch als einziges Beginenhaus Europas mit einer gotischen Kapelle aus. War er nicht in Eile, stattete Braig dem nahen Kaffee Klatsch einen Besuch ab, den Blick auf die von drei Enten begleitete Entaklemmer-Skulptur am Thaddäus-Troll-Platz, einem seiner Lieblings-Schriftsteller, genießend. So klein das Areal auch war, die urigen Altstadtgassen Bad Cannstatts warteten mit einer solch reizvollen Atmosphäre auf, dass er manchmal beim Eintreten in dieses pittoreske Viertel die beruflichen Sorgen ein Stück weit von sich abfallen fühlte. Das konnte in der hell erleuchteten und mit schriller Reklame an allen Ecken und Enden dekorierten Kunstwelt des Carré niemals geschehen.
Braig reihte sich in den Strom der Menge, passierte den Haupteingang der Einkaufspassage. Ein Schwall warmer Luft schwappte ihm entgegen. Er öffnete seine Jacke, kämpfte sich an ausgebeulte Plastiktüten schleppenden, dem Ausgang zu eilenden Menschen vorbei. Die Drogerie war schon von weitem zu bemerken. Noch bevor er ihre Auslagen vor sich sah, hatte er den Geruch ihres reichhaltigen Parfüm-Sortiments in der Nase. Aromen aller Art, dominiert von süßlich schweren Düften stiegen ihm in den Kopf. Er spürte seinen inneren Widerstand gegen diese Umgebung, zwang sich, weiterzugehen, dem weit geöffneten Eingang zu. Er achtete nicht auf die mit bunten Schildern versehenen Sonderangebote, die auf großen Tischen außerhalb des Ladens feilgeboten
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