Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
Stuttgart aufwachsen zu lassen, wusste im Moment aufgrund seiner beruflichen Anspannung dennoch keine Antwort.
»Wir ziehen raus«, wiederholte Ann-Katrin. »Versprichst du mir das?«
Er atmete tief durch, versprach es ihr, bat sie, auf sich aufzupassen und verabschiedete sich dann, weil sie sich Bissingen näherten.
Die Suche nach Meisner und der jungen Frau erforderte alle Kräfte, die ihnen zur Verfügung standen. Bissingen, Owen, Dettingen, Guckenrain, Nabern, Brucken – sämtliche Orte im Umfeld der Teck wurden durchkämmt, dann nach und nach damit begonnen, auch die Wiesen und Wälder zu Füßen der Burg zu untersuchen, alles vergeblich. Von Meisner und der jungen Frau keine Spur. Und dann, mitten in diesen Bemühungen, der Notruf aus der Festung.
Der Rest des Tages hatte sich in einen einzigen Alptraum verwandelt.
Wieder einmal waren sie zu spät gekommen. Zu spät, das Unheil, das Verbrechen zu verhindern. Zu spät, das Leben eines jungen Menschen zu retten.
Abgekämpft und voll düsterer Gedanken in Anbetracht dessen, was jetzt nach dem Anruf der örtlichen Kollegen wieder auf sie wartete, hatten sie die Überreste der jungen Frau erreicht. Dass es sich erneut um einen von Meisners Engeln handelte, war auch auf den dritten Blick hin nicht mehr zu erkennen. Der schmale Weg unmittelbar unter der westlichen Stützmauer der Burg Teck bestand aus nichts als rohen, kaum behauenen Felsen. Der Sturz aus mehr als fünfzehn Metern Höhe von einem der niedrigeren Rundtürme der Festung hatte nicht mehr viel vom ursprünglichen Aussehen der Frau erhalten. Braig, Neundorf und Dolde hatten – aller Erfahrung zum Trotz – lange damit zu kämpfen, den Anblick zu verarbeiten, der sich ihnen hier etwa zwanzig Meter hinter der Sibyllenhöhle am Fuß der gewaltigen Burgmauer bot. Ob ihm das je gelingen würde, Braig konnte es noch Tage später nicht ahnen.
Ein grauenvolles Schreien, jeder der an diesem warmen, sonnendurchfluteten Januartag im Innenhof der Burg anwesende Gast hatte es vernommen. Die meisten waren aufgesprungen, wirr und ohne jedes System umhergerannt, die Herkunft der durch Mark und Bein gehenden Verzweiflungsschreie keiner konkreten Lokalisierung zuordnen könnend, solange, bis ein älterer, bereits pensionierter Oberstudienrat am Fuß der äußeren Mauer auf die zerschmetterte Leiche der jungen Frau gestoßen war.
Stunden später, Braig und Neundorf hatten alle anwesenden Burgbesucher wie die Mitarbeiter des Albvereins befragt, ihre Aussagen akribisch protokolliert, war soviel klar: Nicht einem einzigen der aufgeregt Umherirrenden war eine Person aufgefallen, die sich kurz nach dem infernalischen Schreien aus dem Inneren der Burg davon gemacht hatte. Wenn Meisner, wofür im Moment alles sprach, die junge Frau von der Plattform des Rundturms gestoßen hatte, war es ihm gelungen, sich im von Büschen und Bäumen bestandenen und mit mehreren Vertiefungen ausgestatteten Hinterraum des Innenhofes zu verstecken und dann später, im völligen Durcheinander der Aufregung, mitten durch die hin und her hastenden Menschen zu verschwinden.
Dass die junge Frau mit brachialer Gewalt von dem mit einem großen Münzfernrohr bestückten Rundturm gestürzt worden war, hatten Dolde und der hinzu gerufene Rauleder anhand unzähliger Faserspuren sowohl im Innen- als auch im Außenbereich der Turmmauer schnell belegt; nicht viel länger hatte es zudem gedauert, diese Faserreste verschiedenen, nicht nur von der Ermordeten getragenen Kleidungsstücken zuzuordnen. Welchen Textilien ganz konkret diese Feinstbestandteile entstammten, was der Mörder bei der Tat also getragen hatte, blieb freilich weiteren Untersuchungen vorbehalten, die wohl erst im Verlauf des nächsten Tages zu Ergebnissen führen würden.
Dafür hatten sie keine Mühe gehabt, die Ermordete als Caroline Klenk zu identifizieren, Meisners Engel Nr. Eins, wie sie sich ohne langes Nachdenken schnell erinnerten. Anhand eines am Abhang im Wald etwa drei Meter von der Toten entfernt aufgefundenen Handtäschchens waren sie auf den Personalausweis der jungen Frau gestoßen.
»Er hat gestern Abend mit ihr telefoniert und den Termin heute vereinbart. Der Anruf heute Mittag diente nur noch der Vergewisserung, dass sie auch wirklich kommt. Genau wie mit Lisa Haag. Dieselbe Masche. Hätten die Idioten der Telefongesellschaft uns früher über das Gespräch gestern Abend informiert …« Braig hatte vor Wut auf den Boden gestampft, den neben der Leiche knienden
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