Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
verholfen.
Minutenlang gaben sie sich der Aussicht hin, ließen ihre Blicke über den Steilabfall des Albtraufs und das hügelige Vorland streifen. Dörfer, Städte, Felder, Berge, Wälder, wie ein trotz der kalten Jahreszeit bunter Teppich präsentierte sich das Herzland Württembergs zu ihren Füßen.
Sie kannten das Panorama zur Genüge, genossen es trotzdem wie am ersten Tag. Irgendwann später folgten sie den Stufen nach unten, gesellten sich zu den Gästen der Burg, bestellten Kaffee und Kuchen.
»Drei Jahre. Du hast es nie bereut?«
Marie Luise Ebeling schaute von ihrer Kirschtorte auf. Sie genoss das Aroma der roten Frucht, fand dann zu ihrer Antwort. »Ein einziger Punkt.«
»Ja?«
Die Erklärung lag ihr auf der Zunge; sie kannten sie beide, wussten, was jetzt kam, wollten sie dennoch beide hören.
»Warum mussten wir so lange darauf warten, uns kennenzulernen und zu lieben?« Sie streckte ihre Hand aus, ergriff die ihrer Partnerin.
»Frage nicht nach dem Warum, sondern lebe das Jetzt.« Johanna Weidles Worte benötigten keine Erklärung.
Sie hielten sich fest an den Händen, den Frieden ihres dritten Hochzeitstages mit allen Sinnen genießend. Im selben Moment gellte ein ohrenbetäubend schrilles Schreien durch die Luft. Marie Luise Ebeling spürte die Gänsehaut, die sich augenblicklich auf ihrem Rücken ausbreitete.
24. Kapitel
Mitten in der Hektik des Aufbruchs nach Bissingen hatte Ann-Katrin angerufen. Braig war trotz seiner angespannten Nerven noch aufmerksam genug, den besorgten Unterton ihrer Stimme wahrzunehmen.
»Ist etwas passiert?«, hatte er sofort gefragt, kaum dass sie sich gemeldet hatte.
»Du klingst sehr in Eile.«
»Wir sind unterwegs nach Bissingen. Meisner und einer seiner Engel wurden über ihre Handys dort geortet.«
»Dann habt ihr den Kerl endlich.«
»Hoffentlich. Wenn wir schnell genug sind. Ich fürchte, er will einem weiteren Engel was antun.«
»Dann will ich dich nicht aufhalten.«
»Das tust du nicht.« Braig hatte genau gespürt, dass es ihr auf den Nägeln brannte, ihm etwas mitzuteilen, hatte sich die Zeit abgerungen, auf ihr Anliegen einzugehen. Die Kollegen des Kirchheimer Reviers waren bereits benachrichtigt, ihre Hilfe bei der Suche nach Meisner und Caroline Klenk in Bissingen und Umgebung eingefordert. »Wir sind bereits unterwegs, können sowieso nichts tun, bis wir an Ort und Stelle sind«, hatte er hinzugefügt.
»Dann kann ich es dir ja sagen. Birgit Nestler hat ihr Kind verloren.«
»Birgit Nestler?«, fragte er erschrocken.
»Gestern. Sie wurde angefahren.«
Braig kannte die junge Frau, eine Nachbarin, die wenige Häuser von ihnen entfernt um die Ecke in der Augustenstraße im Stuttgarter Talkessel wohnte. Sie war wenige Jahre älter als Ann-Katrin, erwartete, soweit er wusste, in wenigen Wochen ihr zweites Kind. Seine Lebensgefährtin hatte sie an der in ihrer Nähe gelegenen S-Bahn-Station Feuersee kennengelernt, die Nachbarin mit ihrer kleinen Tochter bereits zwei- oder dreimal besucht und zu sich eingeladen. »Was ist passiert?«
»Ich habe ihren Mann getroffen. Er war ganz bleich, ich habe es ihm sofort angesehen, dass etwas nicht stimmt. Birgit war in der Reinsburgstraße unterwegs, auf dem Gehweg, ihre Kleine an der Hand. Ein Auto war zu schnell unterwegs, krachte auf ein anderes. Dessen Fahrer verlor die Herrschaft über den Wagen, schoss auf den Gehweg. Birgit wurde zur Seite geschleudert.«
»Was ist mit ihr?«, fragte Braig. Ausgerechnet jetzt, wo Ann-Katrin selbst schwanger ist, schoss es ihm durch den Kopf. Sie macht sich Sorgen genug, jetzt auch noch das!
»Sie liegen im Krankenhaus, beide. Die Kleine ist zum Glück nur leicht verletzt. Aber das Baby hat sie verloren.«
Er hörte, wie sie leise schluchzte, versuchte, sie zu trösten. »Wir können sie gemeinsam besuchen, wenn ich hier fertig bin.«
Sie benötigte mehrere Sekunden, sich zu beruhigen, putzte sich dem Geräusch nach die Nase. »Das ist nicht nötig«, erwiderte sie. »Ich fahre heute Mittag hin, du hast sowieso zu viel zu tun.« Sie holte tief Luft, wartete nicht auf eine Antwort. »Aber eins sage ich dir: Ich will raus aus dieser Scheißstadt! Mein Kind soll leben, nicht schon vor seiner Geburt zugrunde gehen. Wir suchen uns eine Wohnung außerhalb, ja?«
Braig sah sich mit diesem Wunsch nicht zum ersten Mal konfrontiert, hatte schon mehrfach darüber nachgedacht, ob es noch zu verantworten war, ein Kind in einer solch kinderfeindlichen Umgebung wie
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