Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
zur Kirche, überquerten die auch an diesem Tag von Lärm und Abgas erfüllte stinkende Kirchheimer Piste, flanierten die noch kahlen Obstbaumhügel hoch, bis sie das sanft ansteigende Wiesengelände erreichten. Der Blick in die Höhe war atemberaubend wie immer: Über dem breiten Wiesengürtel der steil ansteigende Wald, dem Himmel zu, scheinbar schwerelos in ihn hineinragend, der schlanke Turm der Burg. Marie Luise Ebeling verharrte auf der Stelle, genoss den Moment des Glücks.
»Du hast es nicht bereut?«
»Nie«, erklärte sie voller Überzeugung.
Bei einer Wanderung waren sie aufeinander getroffen, oben, im Herzen der Burg. Es war Liebe auf den ersten Blick, obwohl sie es selbst kaum glauben konnte. Jenseits der Sechzig? Mit einem Bein im Grab?
Sie hatten lange gezögert, mehr als fünfzehn Monate, die ablehnende Haltung allzu vieler Freunde im Ohr. Allen Einwänden zum Trotz – an ihrem Vierundsechzigsten hatten sie den gemeinsamen Schritt ins Glück gewagt. Zustimmung war nicht die einzige Reaktion. Ablehnung, Entrüstung, der Abbruch langjähriger Freundschaften fast in gleicher Anzahl.
»Allen Verlusten zum Trotz?«
»Verlust? Ist es wirklich ein Verlust, von solchen Freunden befreit zu werden?«
Sie wollte nicht länger daran denken, schritt wieder aus, die hügeligen Wiesen hoch. Nach zwanzig Minuten hatten sie den Waldsaum erreicht. Sie überquerten die Straße, folgten dem schmalen Weg am bewaldeten Hang in die Höhe. Es war mühsam und schweißtreibend wie immer, wenn man die Sechzig schon einige Jahre hinter sich hatte jedenfalls. Siebenhundertdreiundsiebenzig Meter über dem Meeresspiegel wollten erst mal erklommen sein, auch wenn der Bahnhof unten im Tal, von hier oben winzig klein wie die Anlage einer Modelleisenbahn anzusehen, die dreihundert Höhenmeter um einiges überschritt. Kurz nach 14 Uhr hatten sie es jedenfalls geschafft. Sie kämpften sich die letzten Meter auf dem hier oben fahrbahnbreiten Weg bergan, passierten die nordöstliche Stützmauer der Burg, liefen dann Hand in Hand die Rampe ins Innere der Anlage hoch.
Der Andrang war bescheiden, wie Marie Luise Ebeling dankbar feststellte, dem Rummel an manchen Sommerwochenenden in keiner Weise vergleichbar. Einige wenige überwiegend ältere Frauen und Männer, dazu eine handvoll Mütter mit Kindern hatten den Weg auf sich genommen, saßen jetzt auf im Innenhof aufgestellten Bänken und Tischen, Kaffee, Limo und Kuchen vor sich, von fleißigen Helfern des Schwäbischen Albvereins versorgt. Ein Novum im Januar, wusste Marie Luise Ebeling, wann hatte es das – mitten im angeblichen Winter – schon einmal gegeben?
»Zuerst auf den Ausguck?«
Keine Frage, das war Tradition. Sie liefen an dem bewirtschafteten Areal vorbei, erklommen den Turm. Viele, viele Stufen, dann ein letzter Schritt. Sie wusste von unzähligen Besuchen der Burg, was jetzt auf sie wartete, wurde – wie jedes Mal – auch heute wieder aufs Neue vom nächsten Moment überwältigt. Sie klammerte sich an die Wand, starrte hinaus ins Land, sah die halbe Welt unter sich liegen. Der Ausblick war einfach gigantisch. Hier ist Freude, hier ist Lust, wie ich nie empfunden, Marie Luise Ebeling kannte die Geschichte der Burg wie die Lobpreisungen Eduard Mörikes in- und auswendig. Der schwäbische Poet, der Anfang des 19. Jahrhunderts als Vikar in Owen gelebt hatte, war dem Blick von dem hohen Albfelsen wie so viele andere Schwaben regelrecht verfallen. Verliebt in ihre Namensvetterin Luise, mit der er die Burg oft bestieg, hatte er ihr eines seiner schönsten Gedichte geschenkt.
Errichtet worden war die gewaltige Anlage auf der weit ins Land vorspringenden Teck schon im 12. Jahrhundert. 1186 hatte sie Herzog Adalbert von Zähringen zu seiner Residenz ausgebaut. Im 14. Jahrhundert zuerst in den Besitz der Habsburger, dann in den der Württemberger gelangt, war die Burg im Bauernkrieg 1525 weitgehend zerstört worden. Zwar hatte Herzog Karl Alexander später versucht, der Anlage einen Teil der alten Substanz zurückzugeben, doch war es bis heute bei dem unvollständigen Ensemble geblieben. Dass das englische Königshaus über die Queen Elizabeth von der Duchess of Teck abstammte, war ein besonders gern überliefertes Bonmot zur Geschichte der Burg. Zum großen Glück unzähliger Wanderer hatte der Schwäbische Albverein die Gelegenheit ergriffen, die Burgruine zu einer Herberge auszubauen. Das hatte ihm zu einem der landesweit wohl am exponiertesten gelegenen Wanderheime
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