Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
besser, du nimmst Platz. Deshalb bin ich vorhin extra aufgestanden«, meinte Ohmstedt. »Wenn ich das, was du jetzt zu sehen bekommst, richtig einschätze, bist du der einzige, der von Stephans dreizehntägiger Überwachungstour profitiert. Vielleicht war doch nicht alles umsonst.«
Braig verstand immer noch nicht, worum es ging, setzte sich auf den Schreibtischstuhl, betrachtete das Standbild. »Schloss Grafeneck und der Ulmer Spatz in der Nähe von Marbach.«
»Du kennst die Gegend?«, fragte Herb.
»Aber sicher. Mit dem Ulmer Spatz bin ich schon oft gefahren. Eine Museumsbahn mit unglaublich engagierten Leuten.«
»Die Aufnahme stammt vom Donnerstag, dem 15. Januar, gegen 15 Uhr.«
»Donnerstag, der 15. Januar?« Das Datum hatte sich Braig ebenso eingeprägt wie die Gegend. Meisners Tod und der Fundort seiner Leiche. »Mein aktueller Fall«, sagte er.
»Schau dir die Szene an«, forderte Herb ihn auf. »Auch wenn du es auf den ersten Blick nicht siehst.«
Er griff zur Tastatur, ließ den Film weiterlaufen. Die Kamera hielt auf den türkis-weißen Schienenbus unten im Tal zu, der sich langsam näherte. Sein Brummen war immer kräftiger zu vernehmen, alte, von der Anstrengung des Anstiegs voll geforderte Motoren, nur kurz von einem scharfen Knall übertönt! Der Zug fuhr weiter, unterhalb des Standortes der Kamera vorbei, verschwand hinter dunklen Bäumen. Braig wartete auf eine Änderung des Motivs, sah, wie die Kamera vom Tal in die Höhe schwenkte, dem Waldsaum folgend. Irgendetwas huschte zur Seite, ein langes Paket vor sich auf dem Boden, dann folgte ein weiterer Hang, und der Bildausschnitt hielt voll auf zwei heftig in die Linse winkende, etwas dunkelhäutigere Männer. Sie lachten, gestikulierten, gaben unverständliche, arabisch klingende Kommentare von sich. Das Motiv hielt mehrere Sekunden, wurde dann plötzlich von einem in einen roten Linienbus steigenden Mann abgelöst.
»Soweit«, erklärte Herb, stoppte den Film.
Braig schaute ihn erwartungsvoll an.
»Ich habe es, wie gesagt, auch nicht bemerkt, obwohl ich damals im Wald richtig erschrocken war. Aber dann habe ich es im Eifer der Überwachung vergessen. Du hast es Jan zu verdanken.« Er ließ den Film zurücklaufen, stoppte erneut.
»Die Lautstärke war es«, erklärte Ohmstedt. »Ich hatte sie viel zu stark aufgedreht.« Er schaute zu Herb, nickte ihm zu. »Lass es ihn hören.«
Der Kollege drehte den Ton voll auf, ließ den Film wieder laufen. Der Zug näherte sich mit ohrenbetäubendem Brummen. Braig riss die Arme hoch, drückte die Hände auf die Ohren, hörte gerade noch den durch Mark und Bein dringenden Knall. Ein Pistolenschuss, wie auf dem Schießstand.
Herb reduzierte die Lautstärke auf das normale Niveau, ließ den Film noch kurz weiterlaufen, bis der Zug hinter den Bäumen verschwunden war und die Kamera in die Höhe schwenkte, hielt ihn dann an. »Und?«, fragte er.
»Ein Schuss aus einer Pistole.«
»Genau. Und hier sind die Folgen.« Er reichte Braig eine auffallend große Lupe, die neben dem Monitor lag, deutete auf die linke Ecke des Bildschirms.
Er sah es schon mit bloßem Auge. Die Umrisse eines Menschen, der eine Pistole in der Hand hielt, den Arm – nach dem Schuss – bereits etwas abgesenkt.
Herb löste das Standbild, setzte den Film wieder in Bewegung, allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde, stoppte dann sofort wieder. Die Szene hatte sich nur wenig verändert. In die untere Hälfte des Bildschirms gerückt, gerade noch sichtbar, die Person mit der Pistole, vor ihr, von zwei winterkahlen Baumstämmen teilweise verdeckt, die Umrisse dessen, was Braig zuvor als eine Art langes Paket wahrgenommen hatte, das war jetzt als auf dem Boden liegender Mensch zu erkennen.
Braig hielt die Lupe vor den Monitor, schrak augenblicklich zusammen. »Verdammt, das darf nicht wahr sein!« Die Leistung des klobig wirkenden Geräts war von außerordentlicher Qualität. Er erkannte das Gesicht des Menschen auf dem Waldboden, hatte es in den letzten Tagen unzählige Male gesehen. »Meisner.«
Ohmstedt nickte. »Uns kam er sofort bekannt vor. So oft, wie er in der vergangenen Woche in den Medien zu sehen war.«
»Und hier siehst du seinen Mörder«, erklärte Herb, auf die Person mit der Pistole deutend.
Braig schob die Lupe nach unten, hatte das Gesicht plötzlich unmittelbar vor sich. Ohmstedt sah, wie er zusammenzuckte, hörte den lauten Seufzer des Kollegen.
»Mein Gott, das darf nicht wahr sein!« Braig starrte
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