Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
von Nordosten nach Südwesten gezogene Linie steil in die Höhe ragen. Das Hügelland davor im ersten zarten Frühlingsgrün, die Berge in einen Hauch von dunkelblauem Dämmer gehüllt. Die blaue Mauer, wie der Steilanstieg der Schwäbischen Alb seit der Zeit der Romantik bezeichnet wurde, hier liegt sie wieder vor dir, kam es ihm unwillkürlich in den Sinn, ähnlich wie gestern im weit entfernten Lorch.
»Sämtliche leitenden Positionen«, erklärte Maurer, »vom Chef einer kleinen Arbeitseinheit bis zum Geschäftsführer. Deren Verdienst wurde mit dem neuen Tarifvertrag zum Teil drastisch gekappt.«
»Die konnten kündigen und zu einer anderen Firma gehen. Soweit ich informiert bin, haben das bei Göttler aber nur wenige getan.«
»Die konnten kündigen, ja. Aber glauben Sie wirklich, dass das so einfach ist? Versuchen Sie mal, mit Mitte Vierzig oder Fünfzig oder gar noch älter in einer anderen Firma unterzukommen – vor allem mit der Erwartung auf einen Spitzenverdienst. Das gab viel böses Blut, Schmiedle hat sich in diesen Kreisen wirklich nicht beliebt gemacht.«
»Sie wissen von konkreten Auseinandersetzungen?«
Maurer ging zu seinem Besucher zurück, schüttelte den Kopf. »Nein, Namen kann ich Ihnen keine nennen. Mit der Praxis bei der Firma Göttler habe ich mich nicht befasst. Das ist allein Schmiedles Sache. Ich weiß aber, dass er zeitweise dermaßen bedroht wurde, dass er seinen Job hinwerfen wollte.«
Braig bedachte den Mann mit einem erstaunten Blick. »Wann war das?«
»Wann?« Sein Gesprächspartner setzte sich wieder auf seinen Stuhl. »Das dürfen Sie mich nicht fragen. Eigentlich ging das die ganze Zeit so. Da gab es ständig Leute, die eine Revision des Tarifvertrags verlangten. Die fühlten sich überfahren, hatten wohl gedacht, Schmiedles Modell halte nur wenige Monate und sobald es der Firma wieder besser gehe, kämen die alten Modalitäten automatisch wieder zur Geltung. Dem war aber nicht so.«
»Sie kennen wirklich keine Namen?«
»Tut mir leid. Fragen Sie in der Firma nach. Falls Sie dort Gesprächspartner finden.«
»Das werde ich tun«, sagte Braig. »Auf jeden Fall.«
»Obwohl etliche Widersacher auch außerhalb der Firma Göttler zu finden sein werden.«
»Außerhalb der Firma? Von wem sprechen Sie?«
Maurer griff nach dem Wasser, das er seinem Gesprächspartner und sich am Anfang ihrer Unterhaltung ausgeschenkt hatte, trank davon. »Die üblichen Verdächtigen«, sagte er dann, nachdem er das Glas auf den Tisch gestellt hatte.
»Geht es etwas konkreter?«
»Allerdings«, erklärte der Wissenschaftler, »haben Sie schon einmal überlegt, wie viel politische Sprengkraft Schmiedles Modell hat? Da geht einer hin, gibt denen, die wenig haben, mehr und denen, die sehr viel haben, wesentlich weniger. Gleichmacherei – kennen Sie diesen polemischen Kampfbegriff? Und das nicht nur einmal, sondern durch die Umwandlung der Gehaltserhöhungen in absolute Summen für immer. Er zementiert diese Gleichmacherei also auch noch. So lange sein Modell bloße Theorie war, irgendwelche Thesen auf weißem Papier oder im Inneren eines Computers verborgen, taugte es höchstens zu versponnenen Disputen abgehobener Intellektueller. Aber in dem Moment, wo es in die Praxis umgesetzt wurde und sich von Monat zu Monat bewährte und immer deutlicher zeigte, dass es wirklich zu realisieren ist – was bringt es unübersehbar zum Ausdruck?«
Braig sah die fragende Miene seines Gegenüber, brauchte nicht lange, eine Antwort zu formulieren. »Dass Leitungspositionen auch ohne abartig hohe Spitzenverdienste sehr gut bewältigt werden können.«
»So lässt sich das durchaus formulieren, ja. Und damit sind wir beim Thema.«
Maurer zupfte einen kurzen hellen Faden von seinem Anzug, spitzte die Lippen. »Sie wissen, in welchen Höhen sich die Gehälter führender Manager in unserem Land bewegen? Inklusive Aktienoptionen, zusätzlichen Provisionen, gewinnbezogenen Tantiemen, individuellen Leistungsprämien?«
Braig rollte mit den Augen, blies die Luft von sich. »Das dürfen Sie mich nicht fragen. Ich bewege mich normalerweise in anderen Kreisen. Was das anbelangt, kann ich nur grob schätzen. In Millionenhöhe, auf jeden Fall. Konkrete Zahlen sind mir nicht bekannt.«
»Dann will ich Ihnen doch einmal ein paar konkrete Beispiele präsentieren.« Maurer zog ein Notebook, das am linken Rand des Schreibtisches lag, zu sich her, klappte es auf, beschäftigte sich kurz damit, schob es dann so zur Seite,
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