Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
begannen die Schwierigkeiten. War es normal, dass der Kunde sich so auffällig überall im Laden umsah? Hatte sie dasselbe Gesicht nicht schon einmal – vor zehn oder fünfzehn Minuten etwa – gesehen? Zurückspulen, im Schnelldurchlauf, nach dem Mann suchen, Stopp, nein, das war er nicht, weiter zurück, wie weit eigentlich noch, Stopp, nein, wieder nicht.
Sie hatte die Techniker gebeten, ihr zwei Großbildschirme zur Verfügung zu stellen, war von Dr. Dolde mit zwei parallel nebeneinander projizierenden Beamern überrascht worden. Die zeitgleich aufgenommenen Bilder im Kinoformat vor Augen, den Blick mal eher nach rechts, dann wieder nach links gerichtet, hatte sie sich die Nacht vor dem Überfall vor Augen geholt. Zwei, dann, nach kurzer Unterbrechung, nochmals eineinhalb Stunden lang, zuerst im Originaltempo, dann mehr und mehr im Schnelldurchlauf. Auffällige Verhaltensweisen?
Sie hatte drei Tassen Kaffee getrunken, die beiden Filme im Maximaltempo bis zum plötzlich und unverhofft eintreffenden Ende an die Wand projiziert, war stutzig geworden. Die letzte Kundin, unmittelbar vor dem großen Flimmern, wie viele Minuten vor der Zerstörung der Kameras hatte sie den Verkaufsraum verlassen? War es nicht möglich, dass sie draußen die vielleicht bereits auf ihre Gelegenheit wartenden Täter wahrgenommen hatte – und sei es auch nur flüchtig, ohne dieser Beobachtung bisher eine Bedeutung beizumessen?
Neundorf spulte beide Filme zurück, bis zu der Stelle, da die Frau den Laden betrat. Sie blieb am Eingang stehen, schaute sich suchend um, lief dann, nach kurzem Zögern auf ein Regal am äußeren Rand der Verkaufsfläche zu, wurde dabei von einer Kamera für einen Moment voll erfasst. Die Kommissarin stoppte das Band, versuchte, das Gesicht der frühen Kundin zu beobachten. 6.46 Uhr zeigte die im linken unteren Bildrand eingeblendete Uhr, das musste wenige Minuten vor dem Überfall aufgenommen worden sein. Trotz der riesigen Bildfläche war das Gesicht der Frau nur ansatzweise zu erkennen, der Schatten des die nächste Lampe verdeckenden Regals tauchte es in Dunkelheit, die Augenpartie blieb zudem von einer überdimensional großen, mit dunklen Gläsern bestückten Brille verborgen. Eine Sonnenbrille, überlegte Neundorf? Morgens, wo weit und breit keine Sonne zu sehen ist. Weshalb?
Sie setzte den Film wieder in Bewegung. Die Frau ging vollends zu dem Regal, griff nach verschiedenen Gegenständen, nahm sie in Augenschein, entschied sich nach einer Weile für eine Tube und eine kleine runde Dose – Neundorf glaubte, Cremes oder Salben zu erkennen – ging mit ihnen zur Kasse. Sie wurde von Wössner mit einem Kopfnicken und wohl auch einem – seiner Lippenbewegung nach – kurzen Satz begrüßt. Anschließend registrierte der Mann die beiden Gegenstände mit seinem Scanner, nahm einen 20-Euro-Schein entgegen, öffnete die Kasse und gab der Frau zwei Münzen zurück. Zwei außergewöhnlich teure Artikel, überlegte sie.
Die Frau nahm das Geld entgegen, steckte es in ihre Geldbörse, verstaute diese mitsamt den beiden Cremes in ihrer Handtasche. Sie nickte Wössner kurz zu, marschierte dann auf kürzestem Weg schnurstracks aus dem Laden. 6.51 Uhr und 12 Sekunden, sah Neundorf eingeblendet.
Sie ließ den Film weiterlaufen, wartete auf das Flimmern. Wössner war mit irgendwelchen Dingen unterhalb der Kasse beschäftigt, schaute kurz zur Tür, verschwand dann nach links aus dem Bild. Drei Sekunden später tauchte er wieder auf, voll in die Richtung der linken Kamera blickend, bückte sich auf den Boden und lief dann nach rechts aus dem Bild. Fast im gleichen Moment – im Abstand von zwei Sekunden vielleicht – plötzlich Flimmern, erst links, dann rechts. 6.52 Uhr und 8 Sekunden. Die Frau war nicht einmal eine Minute aus dem Laden verschwunden. Sechsundfünfzig Sekunden, um es genau zu sagen. Sechsundfünfzig Sekunden, überlegte Neundorf. Sie hatte den Verkaufsraum verlassen, war zu ihrem Auto gegangen und weggefahren. Und die Täter? Wann waren sie an der Tankstelle angelangt?
Sie musste nicht lange überlegen, fand nur zu einer Antwort. Die Täter mussten zu dem Zeitpunkt längst in der Nähe gewesen sein, hatten nur auf den Moment gewartet, bis die frühe Kundin endlich verschwunden war. Nicht weit vom Laden. In ihrem Fluchtwagen?
Neundorf griff zum Telefon, gab Doldes Nummer ein. Der Techniker meldete sich umgehend.
»Ich habe hier eine unbekannte Frau auf dem Bild, die unmittelbar vor dem Überfall in
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