Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
dass sein Besucher den Monitor gut im Blick hatte. »Diesen Artikel habe ich letzte Woche zufällig in der Wochenzeitung Die Zeit entdeckt. Ein seriöses Blatt, ich nehme an, Sie kennen es?«
Braig nickte zustimmend, warf einen Blick auf den Text und die Grafiken vor ihm.
»Sie listen die Einkommen der Spitzenmanager auf, inklusive aller Boni. Interessant, oder?«, fuhr Maurer fort.
Braig las die Namen, sah die dazu abgedruckten Zahlen, verfolgte die Erklärungen. Fast alle großen Konzerne waren aufgeführt, dazu die führenden Manager, die Höhe ihrer Jahreseinkommen. Siemens, RWE, BASF, Daimler-Benz, Volkswagen, Linde … Der niedrigste Verdienst bei 4.300.000 Euro, die meisten um die 7.000.000 Euro bis 8.500.000 Euro, die absolute Spitze mit 12.700.000 Euro. »Gerhard Bruckermann«, las er, »der ehemalige Chef der Pfandbriefanstalt Depfa erhielt im Jahr 2004 insgesamt 7,4 Millionen Euro. Drei Jahre später wurde die Depfa von der Hypo Real Estate übernommen und Bruckermann konnte Aktien, die er als Teil seiner Bezüge bekommen hatte, für geschätzte 100 Millionen Euro veräußern. Zwei weitere Jahre später musste die Hypo Real Estate vom Steuerzahler mit Abermilliarden gestützt werden. Ursache waren genau jene Geschäftsmethoden, mit denen Bruckermann die Depfa einst so begehrenswert gemacht hatte. Und er? Ist längst weitergezogen. Und nicht erreichbar.«
»Das sind die Spitzenverdiener, wohlgemerkt«, betonte Maurer, »aber die Abteilungsleiter in den nächstfolgenden Etagen müssen auch nicht gerade Hunger leiden.«
Braig löste seinen Blick vom Monitor, dachte an sein eigenes Gehalt, versuchte, es mit den hier aufgeführten Zahlen zu vergleichen. Die unterste Einkommensstufe übertraf seinen eigenen Verdienst um mehr als das 100fache. Was er in etwa 110 Jahren verdiente, bei 110 Jahren ununterbrochen ausgeübter Berufstätigkeit, entsprach in etwa dem, was einer dieser als Spitzenmanager apostrophierten Herren in einem einzigen Jahr erhielt, per Gesetz, völlig legal. Oder, anders ausgedrückt …
»Darf ich fragen, womit Sie sich gerade beschäftigen?«, unterbrach der Wissenschaftler seinen Gedankenfluss.
Braig schaute auf, gab bereitwillig Auskunft. »Ich war dabei auszurechnen, in welchem Verhältnis die Einkommen dieser Manager zu denen etwa eines Kriminalkommissars stehen.«
»Und? Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«
»Na ja, das niedrigste Niveau ihrer Verdienste entspricht etwa dem 110fachen meines Gehalts. Was 110 Kommissare zusammen erhalten, kassiert einer dieser Herren, sofern er sich im unteren Randbereich dieser Einkommensklasse bewegt. Schaue ich mir dagegen die hier als Durchschnitt bezeichnete Verdienstmenge an oder gar die Spitze …« Er schwieg, schüttelte den Kopf. »Das 200fache oder 300fache eines Kommissars oder einer Krankenschwester oder eines Facharbeiters«, fuhr er dann fort. »Wie haben die das verdient? Arbeiten die 100mal oder 200mal oder 300mal soviel wie ich? 800 oder 1600 oder 2400 Stunden am Tag und das das ganze Jahr über?« Braig fuhr sich durch die Haare. »Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken, es führt zu nichts. Selbst wenn ich berücksichtige, dass die Gehälter von Managern, die etwa als Abteilungsleiter tätig sind, nur dem zehn- oder zwanzigfachen meines Einkommens entsprechen, wird mir klar, welche Brisanz gerade jetzt in der Zeit wirtschaftlicher Schwierigkeiten in Herrn Schmiedles Modell steckt.« Er ließ seinen Blick aus dem Fenster schweifen, folgte der dunkelblauen Kante des Albtraufs. »Die können gar nicht so viel und so intensiv arbeiten und ihren Firmen neue Werte verschaffen wie sie selbst verdienen. Nicht einmal in Ansätzen.«
Maurer betrachtete ihn lange, gab seine Zustimmung dann mit einem bedächtigen Kopfnicken zu erkennen. »Ich denke, es fällt nicht schwer, nachzuvollziehen, dass diese Schlussfolgerung bestimmten Interessengruppen überhaupt nicht gefällt. Mächtigen Interessengruppen.«
»Unternehmerverbänden zum Beispiel.«
»Unternehmerverbänden, Banken, Industrie- und Handelskammern, Arbeitgebervereinigungen, all denen, die an wichtige Funktionen einer gesellschaftlichen Elite glauben, nicht zuletzt natürlich deren politischen Vertretern. Einer ganzen Menge Leute mit viel Geld und noch mehr Einfluss, die an Schmiedles Modell nur ein einziges Interesse haben: dass es in der Versenkung bleibt und auf gar keinen Fall ans Licht der Öffentlichkeit kommt.«
»Haben Sie konkrete Namen?«
Der Wissenschaftler
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