Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer
Gezeichnete ins Bett zu bringen.
Neugierig hatte Laura auf die kleine Karte mit ihrem Namen und ihrer Anschrift geschielt, die sie ihr hinterlassen hatte. »Sie sind … Pfarrerin?« Sie wusste noch sehr gut, wie überrascht sie war, als sie das gelesen hatte.
»An der Kirche dort vorne, keine fünfhundert Meter von eurer Wohnung.«
Sie hatte zustimmend genickt, lief sie seit ihrem neusten Umzug doch jeden Tag auf ihrem Schulweg an dem Gebäude vorbei.
»Ich heiße Theresa Räuber. Wann können wir beide uns mal ausführlicher unterhalten?«
Drei Tage später hatte sie sie in dem alten, unmittelbar an die Kirche angrenzenden Haus besucht. So abgewrackt und vergammelt es von außen wirkte – das Innere, jedenfalls der Teil im ersten Obergeschoss, der unter Theresas Regie stand, hatte sie doch gewaltig überrascht. Viele kräftige Farben, wohin sie auch sah: Bunt bemalte, in der Form abstrakter Bilder gestaltete Wände, in hellem Rot und Grün gemusterte Vorhänge und Teppiche.
»Haben Sie das etwa selbst gemalt?«, hatte Laura impulsiv gefragt.
»Zusammen mit meiner Freundin, ja. Sie hat das Talent, nicht ich.«
Sie hatte ihr einen Cocktail angeboten, Mexican Lover aus Limettensaft, Orangensaft und Eistee Pfirsich, alkoholfrei, wie sie mit einem Augenzwinkern bemerkt hatte, war ohne langes Geplänkel auf ihre Mutter zu sprechen gekommen. »Bekackt, wie das läuft, was?«
Laura hatte sich selbst gewundert, wie wenig Widerstand sie diesem Anwurf entgegengebracht, wie schnell sie sich zu ihrem ganz alltäglichen Elend bekannt hatte – ganz im Gegensatz zu ihrem sonst üblichen Verhalten. »Bekackt, genau. Sie schafft es nicht ohne.«
»Jeden Tag?«
Sie hatte nur mit dem Kopf genickt.
»Und ihr Job? Sie muss keine Angst um ihn haben?«
»Sie haben sie schon zwei Mal verwarnt, weil sie morgens betrunken aufkreuzte. Beim nächsten Mal ist sie fällig.«
Sie hatte ihr erzählt, dass das so lief, seit ihr Vater vor drei Jahren kurz vor Weihnachten einer anderen Frau wegen von einem Tag auf den anderen ausgezogen war und seither weder etwas zahlte noch von sich hören ließ. Ihren Job als Filialleiterin einer Drogeriekette hatte ihre Mutter nicht lange danach wegen immer häufigerer Fehlzeiten verloren, seither war sie in einem großen Getränkemarkt damit beschäftigt, die Bestände des Ladens auf dem Laufenden zu halten.
»Sie sitzt also direkt an der Quelle«, hatte Theresa die Situation sofort begriffen.
Keine vier Wochen später, Weihnachten und der Jahreswechsel waren gerade vorbei, hatte sich die Alte regelrecht ins Koma getrunken. Zwei Tage und zwei Nächte war sie nicht mehr aus ihrem Suff erwacht. Theresa hatte Laura ins Katharinenhospital begleitet, ihre Mutter danach auf eine Entziehungskur eingeschworen.
»Und was ist mit Laura?«, hatte die Alte gejammert. »Ich kann doch mein Kind nicht allein lassen.«
»Sie kommt zu mir. Im Pfarrhaus ist Platz genug.«
Seither wohnte sie mit dem Einverständnis des Jugendamtes in Theresas Gästezimmer, einem etwa vier auf sechs Meter großen Raum, den sie sich gemeinsam nach und nach gemütlich eingerichtet hatten. Er lag zwar der verkehrsreichen Straße zugewandt, bot dadurch aber den großen Vorteil, dass man von seinem Fenster aus das Geschehen draußen und in der schräg gegenüber gelegenen Kneipe sehr gut verfolgen konnte. Stundenlang hatte Laura bäuchlings auf ihrem Bett gelegen und das Treiben der Angestellten wie der Gäste verfolgt. Die Chefin des offiziell als »Bistro« firmierenden Lokals erschien Tag für Tag ebenso wie ihre beiden blutjungen Bedienungstussen aufgebrezelt bis zum Gehtnichtmehr. Mit den Hintern wackelnd wie ein Papagei im Cannabisrausch tänzelten die Weiber durch die Kneipe, ihren meist männlichen Gästen schaumgekrönte Biergläser und üppig ausgestattete Pommes- und Bratwurstgerichte kredenzend.
Jedes Mal, wenn sie sich auf das Treiben in dem Lokal konzentrierte, glaubte sie, eine Seifenoper im Fernsehen zu verfolgen. Die Aufmachung der Bedienungstussen und ihrer Chefin ähnelte dem leibhaftiger Nutten im Puff – so jedenfalls hatten sich solche Weiber in einer Realityserie präsentiert, die sie im Vorjahr wochenlang im Vorabendprogramm verfolgt hatte. Und der schwarz gewandete Typ mit seinem breiten Goldkettchen, der ihren Beobachtungen nach fast jeden Abend vor dem Tresen hockte und die Tussen fast unablässig hinten und vorne betatschte – wenn es sich bei dem um keinen Zuhälter handelte, wusste sie auch nicht
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