Brandbücher - Kriminalroman
»Sieh mal, Jenny, das ist der Bruder meines Großvaters. Er ist direkt nach dem Reichstagsbrand ausgewandert und nie wiedergekommen.«
»Clever, dein Großonkel!« Jenny nickte anerkennend. »Ich habe mal ein Buch über Kommunisten und andere Kritiker im Dritten Reich gelesen. Das war schon heftig, was die mitgemacht haben.«
Karina sah Jenny überrascht an. Sie hätte nicht gedacht, dass ihre Freundin Bücher über den Nationalsozialismus las. Eher Bücher über Naturschutz, Umweltschutz oder Greenpeace. Seit Jenny Biologie studiert hatte, war sie in mancher Hinsicht richtig radikal geworden. Als ob nicht jeder wusste, dass das Ozonloch immer weiter wuchs und viele Pflanzen und Tiere gefährdet waren. Jenny hatte sich entschieden, Biologielehrerin zu werden und als zweites Fach überraschend Ethik gewählt. »So kann ich den Schülern klarmachen, dass sie es sind, die etwas ändern müssen.« Sie schaffte es sogar, ihrem Promi-Vater und dessen reichen Freunden Geld für die Beteiligung an einem Öko-Bauernhof abzuschwatzen. Dort lebte sie nun. Nur auf ihr Auto wollte sie nicht verzichten. Und auf Männer nicht, wie Karina feststellen musste, als Jenny wieder anfing, von Martin Kleine zu schwärmen. Sie ließ sie reden und versuchte, den Gedanken an den gut aussehenden Pfarrer aus ihrem Kopf zu streichen.
»Der Name Schulze-Möllering taucht auf einer der Karten auf. Ich glaube, das war der frühere Chef von Tante Katharina, der, der ihr ›Mein Kampf‹ empfohlen hat. Kein Wunder, wenn er ein SA-Mann der ersten Stunde war. Damals lebten die Menschen ja wirklich auf einem Minenfeld. Man musste überall damit rechnen, dass sich jemand als Hitler-Anhänger entpuppte. Ätzend!« Karina klappte das Netbook zu. »Mir reicht es für heute«, entschied sie. »Lass uns lieber eine Pizza essen und die Stadt unsicher machen.«
Jenny nickte. »Vielleicht treffen wir ja deinen netten Pfarrer wieder!«
Na, super, dachte Karina. Und sie hatte den Anstoß gegeben.
Ihre Freundin sprang auf und lief in das Zimmer, in dem Karina sie einquartiert hatte. Es war die frühere gute Stube, das Wohnzimmer, das nur an Sonn- und Feiertagen benutzt wurde. Karina beobachtete, wie Jenny in ihren Kleidern stöberte. Mit leichtem Unmut sah sie, wie ihre Freundin eine weiße, schmale Jeanshose und ein kurzes Top anzog. Das hätte sie nie gewagt. Und dann noch das Oberteil, das nur aus Ärmeln zu bestehen schien.
»Meinst du, das gefällt diesem schicken Pfarrer?«, fragte Jenny.
Karina antwortete nicht. Sie bürstete sich kurz die dunkelblonden Haare und tauschte den Haarreif gegen ein Tuch aus. An ihrer Kleidung änderte sie nichts, ihr sportliches T-Shirt im Allerwelts-Look und die Jeans mussten reichen. Sie hatte auch gar nichts anderes zum Anziehen.
Goldmarie und Pechmarie, dachte sie bedrückt, als sie sich neben Jenny vor den Spiegel stellte. Sie konnte nur hoffen, dass sie Martin Kleine nicht in der Kleinstadt-Pizzeria begegneten und dass er nicht auf Frauen wie Jenny stand. Langsam ließ sie sich von Jenny aus dem Haus und in ihren schicken kleinen Sportwagen schieben. Ihre Tante musste bis zum nächsten Tag warten. Was machte ein Tag schon aus nach so vielen Jahren?
*
»Samuel! Für dich!«, rief Jakob Weizmann in den Hausflur. Samuel ging langsam die Treppe hinunter. Seit er in Münster studierte, gab es in seiner Heimatstadt niemanden mehr, der sich mit ihm verabredete. Wenn er ehrlich war, war das auch schon vorher nicht der Fall. Umso mehr wunderte er sich, dass ihn jemand sprechen wollte. Seit Bruno bei ihrem letzten gemeinsamen Kinobesuch seine neuen Freunde in den braunen Hemden gefunden hatte, sahen sie sich höchstens noch in Münster beim Frühstück in der Arztvilla. Wie lange das gehen würde, wusste Samuel nicht. Bruno versuchte, seinen Vater zu überreden, ihn in das Haus der Burschenschaft Welfenia ziehen zu lassen. Dann wäre er, Samuel, überflüssig. Was nützte Brunos Vater ein Spion, der nicht spionieren konnte?
»Mensch, Samuel!« Überrascht sah Samuel Bruno an, der direkt neben der Eingangstür stand und ihn angrinste, als wären sie noch immer die dicken Freunde aus der Kindheit.
»Komm mit, wir wollen einen draufmachen«, forderte Bruno ihn auf.
Samuel zögerte und ging mit schweren Schritten in den Laden. Er wusste, was es hieß, wenn Bruno einen draufmachen wollte. Trinken bis zum Umfallen. Samuel konnte nicht begreifen, wie man Freude daran fand, zu torkeln und zu lallen und am nächsten Tag
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