Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
dem Ende zu. In den märzwarmen Mittagsstunden hatte es getaut und dolchspitze Eiszapfen von den Dächern gelöst. An den
Wegrändern schmolz der Schnee und lief in schlammigen Rinnsalen zusammen. In schmuddeligen Vorgärten kamen Schneeglöckchen und Winterlinge zum Vorschein, die gemeinhin als Vorboten des Frühlings betrachtet wurden.
Sehr konzentriert dachte Pieplow über die weitere Vegetationsentwicklung nach. Wenn ihn seine botanischen Kenntnisse nicht täuschten, folgten demnächst Krokusse, bevor Anfang April Buschwindröschen den Waldboden wie frischgefallener Schnee bedeckten. Er war bei den Narzissen und Tulpen angelangt, als er auf die Seemöwe zusteuerte und nicht mehr umhin konnte, sich wieder dem Thema zu stellen, das er die letzten beiden Stunden erfolgreich verdrängt hatte.
Er zog seinen Schlüssel aus der Tasche, steckte ihn wieder ein und klingelte an seiner eigenen Haustür. Es dauerte eine ganze Weile, bis er hörte, wie Thiel durch den Flur schlurfte.
»Ach nee, Sie lassen sich tatsächlich noch blicken?« Thiel ließ die Türklinke los und schlurfte wieder zurück.
Die Luft im Haus war ein übles Gemisch aus Rauch, Schnaps und ungewaschenen Socken. Bevor die Winterstiefel auf dem Flurteppich gelandet waren, musste mit ihnen gegen die Wand getreten worden sein. Die Abdrücke der Stiefelspitzen waren schwarz und auf der weißen Raufaser gut erkennbar. Beim Anblick der Verwüstung im Wohnzimmer fehlten Pieplow für einige Sekunden die Worte. Seit er das letzte Mal hier
gewesen war, hatte Thiel weder abgewaschen noch aufgeräumt. In zwei Bechern auf dem Tisch waren Teereste eingetrocknet, der Aschenbecher quoll über, und auf der Fensterseite neben dem Sofa bildeten Zeitungen und dreckige Wäsche einen unansehnlichen Haufen.
»Verdammt, Thiel, was soll das?«
»Was?«
»Das fragen Sie noch? Wenn Sie diesen Saustall nicht auf Vordermann bringen, schmeiß ich Sie raus. Dies ist immer noch meine Wohnung, falls Sie das vergessen haben sollten!«
»Scheiß drauf«, sagte Thiel. »Ich hab Wichtigeres im Kopf als Ihre beknackte Ordnung.« In der Flasche vor ihm fehlte mindestens ein Wasserglas Wodka.
»Und was wäre das, außer sich die Hucke vollzusaufen?«
»Vielleicht nachdenken?«
»Verraten Sie mir auch, worüber?«
»Das geht Sie einen Scheißdreck an.«
»Sie machen es einem wirklich nicht leicht, Thiel.« Pieplow nahm ein T-Shirt vom Sessel, warf es zu den anderen zwischen den Zeitungen und setzte sich.
»Warum sollte ich«, sagte Thiel. »Es denkt ja auch keine Sau daran, mir etwas leicht zu machen.« Er schraubte den Verschluss von der Wodkaflasche auf und schenkte sich drei Finger breit ein. »Sie zum Beispiel. Sie lassen mich hier zwei Tage schmoren, schalten Ihr Telefon ab und nehmen sich nicht eine beschissene Minute Zeit, um mich anzurufen.«
»Hören Sie auf zu jammern, Thiel. Und wenn Sie den Schnaps nicht wegstellen, rede ich auch jetzt nicht mit Ihnen.«
»Ist ja gut, Mann.« Thiel schob das Glas beiseite. Er legte den Kopf zurück und schloss für einen Moment die Augen. Bloß nicht durchdrehen, beschwor er sich. Bloß nicht durchdrehen. Der Bulle ist verflucht nochmal der Einzige, der überhaupt noch mit dir redet.
»Also?«
»Es ist schwierig«, sagte Pieplow. »Einerseits sieht es tatsächlich so aus, als taugten die Hauptbelastungszeugen nicht das Schwarze unterm Fingernagel. Möhle hat sich zwar geweigert, mit uns zu sprechen, aber Baring und Rohrbach lügen, dass sich die Balken biegen.«
»Und andererseits?«
»Andererseits nützt uns das überhaupt nichts, solange wir nur die Lüge aufdecken, aber nicht die Wahrheit herausfinden. Und das ist, wie gesagt, schwierig.«
»Wieso«, widersprach Thiel. »Ihr nehmt sie euch vor und bearbeitet sie, bis sie damit rausrücken.« Es war ziemlich klar, was er damit meinte. Er hatte die rechte Hand zur Faust geballt und schlug sie in den Handteller der linken. Immer wieder und ohne dass es ihm bewusst war.
»Niemand wird sich irgendwen vornehmen. Es sei denn, die drei unterziehen sich freiwillig dem, was Sie eine Bearbeitung nennen, und das ist wohl mehr als unwahrscheinlich.«
»Moment!« Thiel rutschte nach vorn auf die Sofakante,
beugte sich über den Tisch und starrte Pieplow aus schmalen Augen an. »Seit wann sind Verhöre freiwillig? Ihr fragt, die müssen antworten. Basta.«
»In einem Ermittlungsverfahren vielleicht. Aber das wird es nicht geben.«
»Wer sagt das?«
»Ehmke. Ich war heute Morgen bei ihm.
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