Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
wahrscheinlich.«
Ehmke nickte und schwieg. Sein Blick ging durch das Fenster auf die Gerichtsfassade.
»Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen«, sagte er höflich und wandte sich Pieplow wieder zu, »was
Sie hier vorbringen, ist, gelinde gesagt, hanebüchen. An keinen anderen Fall in meiner Laufbahn kann ich mich so gut erinnern wie an diesen. Weil ich dort aufgewachsen bin. Weil ich jeden Einzelnen im Dorf kenne. Und weil ich von Anfang an dabei war. Von der Tat bis zum Urteil sozusagen. Wir haben damals ganz nach den Regeln der Kunst in alle nur denkbaren Richtungen ermittelt. Obwohl nichts, aber auch gar nichts auf einen anderen Täter als Thiel hingewiesen hat, haben wir praktisch jeden befragt, der eine Beziehung zu Manuela hatte. Freunde, Nachbarn, Kollegen. Selbstverständlich auch ihre diversen Liebhaber. Wir sind jeder Spur nachgegangen. Sogar den vagen Vermutungen von Susanne Kilian. Das Ergebnis war gleich null. Und wie Sie wissen, war die Beweislage gegen Thiel erdrückend. Ich bin sicher, Herr Ostwald würde das heute noch genauso sehen, wenn er noch … wenn sein Erinnerungsvermögen nicht beeinträchtigt wäre.«
»Aber er ist …« Pieplow kam nicht dazu, Ostwalds sehr spezielle Fähigkeiten noch einmal ins Spiel zu bringen. Mit einer unwirschen Geste schnitt Ehmke ihm das Wort ab.
»Wir können es kurz machen, Herr Pieplow. Selbst wenn ich wollte, was nicht der Fall ist, würde ich keinen Staatsanwalt der Welt zur Aufnahme neuer Ermittlungen bewegen können, nur weil Sie und ein sehr geschätzter, aber eben auch erheblich eingeschränkter, ehemaliger Kollege Wahrheitsfindung betreiben.« Ehmke stand auf und reichte Pieplow die
Hand. »Aber wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf: Überlegen Sie sich gut, was Sie Thiel sagen werden, und sorgen Sie dafür, dass er nichts Unüberlegtes tut. Er wäre nicht der Erste, der sich umgehend wieder in den Knast bringt.«
Lackaffe. Das kam am ehesten hin. Ein bornierter Lackaffe.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis die Wut auf Ehmke sich legte.
Kurz hinter Samtens war Pieplow bereit, sich selbst ein paar kritische Fragen zu stellen.
Zwischen Gingst und Trent kam er zu dem Ergebnis, dass er Ehmke in gewisser Hinsicht sogar verstand. Es war in der Tat eine hanebüchene Geschichte, die er ihm aufgetischt hatte.
Aber nun war sie in die Welt gesetzt und würde ihre Wirkung entfalten. Das spürte er wie einen Windhauch, der im Begriff war, einen Sturm auszulösen. Auch wenn er nicht den leisesten Schimmer hatte, über wem das Unwetter niedergehen würde, früher oder später würde es kommen.
Fragte sich nur, ob und wie es sich beschleunigen ließe.
Vielleicht reichten schon ein paar Gespräche mit denen, die so offenkundig Angst hatten. Baring und Rohrbach. Vor allem der.
Pieplow beschloss, über Einzelheiten erst nachzudenken, wenn er geduscht und gegessen hatte.
24
Zum dritten Mal hatte er vergeblich gewartet. Auch auf dem Mittagsschiff war Pieplow nicht gewesen. Thiel trat aus dem Windschatten der Fahrkartenbude und ging zurück ins Dorf.
In zehn Minuten würde sie den Tabakladen schließen.
Manchmal kaufte sie noch ein, meistens ging sie gleich nach Hause. Ob über das Norderende oder den Wiesenweg, ließ sich nicht voraussehen. Ein paar Mal hatte er sie verpasst, weil er hinter den Türen des Supermarkts auf sie gewartet hatte.
Vor dem Rathaus bestand diese Gefahr nicht. Hier musste sie vorbei, und er konnte ihr folgen. Ihren geraden Rücken betrachten, wenn sie vor ihm her ging. Den Schwung ihrer Hüften, den der dicke Wintermantel nicht verbergen konnte. Ihre festen Schritte in den kniehohen Stiefeln.
Wenn sie nach links zu den Häusern am Deich abbog, lief er weiter geradeaus und stellte sich vor, sie ginge im Sommer vor ihm her. In kurzem Rock, mit sonnenbraunen Beinen, das Haar sommerblond und vielleicht offen über den nackten Schultern.
Knastphantasien, die ihn im Schlaf noch umtrieben.
Heute kam sie über den Wiesenweg. Als er sie entdeckte, drehte er sich um und starrte auf den Kasten mit den amtlichen Bekanntmachungen. Die Tagesordnung der nächsten Gemeinderatssitzung und die neuen Abwasserbeseitigungstarife kannte er inzwischen auswendig.
Als sie hinter ihm vorbeiging, wehte ihr Duft zu ihm herüber. Er wartete ein paar Atemzüge lang, dann folgte er ihr mit einigem Abstand. Sie verhielt sich anders als sonst. Verlangsamte ihren Schritt, um gleich darauf wieder schneller zu gehen. Sah über die Schulter zurück und blieb
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