Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
schließlich stehen.
»Was soll das?« In ihrem Blick lagen Zorn und Entschlossenheit.
»Ich verstehe nicht …« Thiel versuchte ahnungslos zu lächeln.
»Warum laufen Sie mir nach?«
»Wer sagt denn, dass ich Ihnen nachlaufe? Ich trage meine Einkäufe nach Hause. Das ist alles.« Thiel hob die Plastiktüte hoch. Sie war kaum zur Hälfte gefüllt.
»Und warum jeden Tag zur selben Zeit?«
»Keine Ahnung«, sagte Thiel. »Hat sich eben so ergeben.«
»Dann sorgen Sie dafür, dass es sich anders ergibt.«
»Ich verstehe nicht …«
»Hören Sie zu, Herr Thiel. Ich verkaufe Ihnen Zigaretten. Ich verkaufe Ihnen Zeitungen. Ich wechsele ein
paar Sätze mit Ihnen wie mit jedem anderen Kunden. Das ist aber auch alles. Ich will nicht, dass Sie mir auflauern und nachlaufen.«
»Aber es ist helllichter Tag! Glauben Sie allen Ernstes, ich könnte …« Ja, was? Sie niederwerfen und vergewaltigen? Ins Schilf schleifen und erwürgen?
»Es geht nicht um das, was ich glaube. Es geht um das, was ich will. Und ich will nicht mit Ihnen gesehen werden. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« Sie wartete eine Antwort nicht ab.
Thiel sah ihr nach, bis sie zu den Häusern am Deich abbog. Dann drehte er sich um und ging zurück ins Dorf. Was er jetzt brauchte, war wasserklar und hatte vierzig Prozent Alkohol.
Auf der Arbeitsplatte neben dem Herd kühlte ein Apfelkuchen ab. Der Einkaufskorb stand auf seinem Platz im Flur, Maries Anorak hing an der Garderobe.
Pieplow rief nach ihr, bekam aber keine Antwort.
Er fand sie auf dem Boden der Ferienwohnung. Ihre Hände waren staubgrau und damit beschäftigt, eine Steckdose in der Wand zu befestigen.
»Ich bin gleich fertig.« Sie sprach undeutlich, weil ein Spannungsprüfer zwischen ihren Zähnen klemmte.
»Lass dir Zeit«, sagte Pieplow. »Es beruhigt mich, wenn ich dir beim Arbeiten zusehe.«
»Genau deshalb habe ich beschlossen, diese Steckdose zu verlegen. Damit du nach deiner gefährlichen Polizistenarbeit ein wenig Ruhe findest.« Sie stand
auf und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, bevor sie ihn küsste.
Es schmeckte trotzdem nach Zement.
»Wie war’s in Stralsund?«, fragte sie.
»Deprimierend«, sagte er und zog sie an sich. »Ich fürchte, ich habe mich mit meiner Geschichte zum Kantinenwitz des Monats gemacht.«
»Es gibt Schlimmeres.« Diesmal küsste sie ihn auf die Wange.
Er hielt sie im Arm, bis sie sich von ihm löste und verlangte, er solle die Hauptsicherung wieder einschalten. Kaffee und Kuchen gebe es nämlich erst nach erfolgreicher Endkontrolle der geleisteten Arbeit.
Sie quittierte das Glimmen des Spannungsprüfers mit einem zufriedenen Nicken.
»Frau Ostwald hat angerufen«, sagte sie, während sie die Steckdose festschraubte.
»Bei dir?«
»Warum nicht? Sie hat versucht, dich zu erreichen, weil sie sich Sorgen um ihren Mann macht.«
»Was ist mit ihm?«
»Er hat letzte Nacht kaum geschlafen und zwei Stunden lang Schubert gespielt.«
»Deswegen macht sie sich Sorgen?«
»Genau. Sie sagt, er spielt Schubert nur, wenn es ihm schlecht geht. Wenn er zornig ist oder verbittert.«
»Und warum ist er verbittert?«, fragte Pieplow, obwohl er ahnte, was sie antworten würde.
»Seine Frau meint, weil er sich die Schuld gibt, dass
Thiel verurteilt wurde, und weil er nichts tun kann, um das ungeschehen zu machen.«
»Das kann keiner«, sagte Pieplow. Mit Dingen, die sich nicht ungeschehen machen ließen, kannte er sich aus. »Höchstens dafür sorgen, dass der Mörder nicht ungeschoren davonkommt. Aber nicht mal das scheint zu gelingen.«
Marie richtete sich auf. Klopfte sich den Zementstaub von den Knien und sah ihn an.
»Zwei Dinge gefallen mir nicht, Daniel«, sagte sie. »Erstens die Probleme, die wir haben, weil Thiel hier ist, und zweitens die Vorstellung, du könntest aufgeben, obwohl du weißt, dass es falsch ist.«
»Findest du das nicht ein bisschen widersprüchlich?«
»Ganz und gar nicht«, sagte Marie. »Und jetzt lass uns Kaffee trinken. Mir steht der Sinn nach Wärme und Kuchen.«
Aus dem gelben Kern der Sonne floss Licht über die träge rollende See. Tauchte die Wolken in Purpur und färbte die Eisschollen an der Wasserlinie hellviolett. Kurz vor sechs berührte die Sonne den Horizont, ein paar Minuten später war sie versunken, und der Wind schien eine Spur kälter zu werden.
Pieplow hatte sich für den Weg auf dem Deich entschieden und zum ersten Mal in diesem Jahr das Gefühl, der Winter neige sich
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