Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
Mund verschwand das Schmale, das bösartig Verkniffene, vor dem er sich gefürchtet hatte, seit er denken konnte.
Die Hände des Alten lagen so entspannt auf der Bettdecke, als hätten sie sich nie wie Schraubstöcke um Kinderarme gelegt, nie nach der Gerte gegriffen und zugeschlagen.
Weide, erinnerte sich Rohrbach. Der Alte hatte Weide bevorzugt. Nicht zu dicht am Stamm und nicht zu weit an der Spitze geschnitten. Fest, doch ausreichend biegsam, denn so hinterließ sie auf nackter Haut bei jedem richtig geführten Schlag einen anständigen Striemen.
Du hast mir mehr eingebläut als ausgetrieben, dachte er, während er die Hände des Alten betrachtete. Die Angst und die Feigheit und den ewigen Wunsch, mich von dir zu befreien.
Leise, als fürchte er, den Alten zu wecken, schlich Rohrbach aus dem Zimmer. Er ging zu Bett und wachte erst auf, als sein Wecker klingelte.
Soweit er wusste, hatte er nichts geträumt.
23
Ausgerechnet im Kreisel hatte es gekracht. Auf dem Frankendamm stauten sich die Fahrzeuge in beiden Richtungen. Die Stralsunder Kollegen gaben ihr Bestes, um den Verkehr auf einer schmalen Spur an der Unfallstelle vorbeizuleiten. Pieplow trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. Mit ein bisschen Glück konnte er noch pünktlich ankommen.
Vor dem klobigen Gebäude der Polizeidirektion stand zwischen den Einsatzfahrzeugen der Stralsunder ein schwarzer Mercedes mit Hamburger Kennzeichen. Hanseatische Kooperation morgens um zehn.
Privatwagen, sofern befugt zum Aufenthalt auf dem Polizeigelände, gehörten auf den Parkplatz zwischen den rückwärtigen Gebäuden. Pieplow stellte sein Auto ab und blieb noch einige Minuten sitzen. Er war nervös, und in seinem Bauch rumorte es hohl.
Er hätte sich unterwegs ein Brötchen kaufen sollen. Jetzt musste er diesem Ehmke mit gurgelndem Magen gegenübersitzen. Er kramte im Handschuhfach und fand tatsächlich etwas Essbares. Eine angebrochene Tüte Weingummi, die schon ein paar Monate dort gelegen haben musste. Die Sommerhitze hatte den
Inhalt zu einem glasigen Block in unappetitlichen Farben geschmolzen.
Besser als nichts. Pieplow biss ein großes Stück ab und stieg aus dem Wagen.
Hauptkommissar Ehmkes Büro war eindeutig moderner als der Rest des Gebäudes. Ein breiter Schreibtisch stand schräg zum Fenster, war aufgeräumt und sah trotzdem nach Arbeit aus. An den Wänden hingen großformatige Stadtansichten, die unbestreitbar schöner waren als der Ausblick auf das gegenüberliegende Landgericht. Neben dem Aktenschrank gab es einen Besprechungstisch mit sechs Plätzen, darauf standen eine Thermoskanne und zwei Tassen.
»Herr Pieplow, nehme ich an?« Ehmke erhob sich und umrundete seinen Schreibtisch. Ein großer, schlanker Mann mit kräftigem Händedruck. Mit einer Armbewegung leitete er Pieplow zum Tisch.
»Wir sind uns schon einmal begegnet, erinnern Sie sich?«
»Nein, tut mir leid«, sagte Pieplow, wusste aber auch, dass er ihn irgendwoher kannte.
»Es muss fünf oder sechs Jahre her sein. Wir haben damals auf Hiddensee ermittelt.«
»Stimmt. Fast sieben Jahre ist das her.« Ehmke musste damals zu Ostwalds Tross gehört haben. Wirklich erinnern konnte sich Pieplow nicht an ihn.
»Möchten Sie?« Ehmke hob fragend die Thermoskanne an.
»Gerne, danke.«
»Es hätte mich auch irritiert, wenn Sie Nein gesagt hätten. Ich finde, eine gepflegte Koffeinsucht gehört zur Polizeiarbeit wie der Diesel zum Schiff.«
Der Schiffsdiesel war heiß, trübe und bitter. Pieplow nahm mehr Milch und eine doppelte Portion Zucker.
Ehmke trank das Gebräu schwarz. Er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Zu schwarzen Jeans trug er einen hellgrauen Rollkragenpullover, über der Lehne seines Schreibtischstuhls hing ein dunkelgraues Jackett. Obwohl er auf die fünfzig zugehen musste, hatten seine Bewegungen das Geschmeidige eines gut trainierten Sportlers.
Tanzstundenstreber, fiel Pieplow ein. Gegen den hätte ein Stiesel mit zwei linken Füßen wohl kaum eine Chance.
Aber darum ging es hier schließlich nicht.
Ehmke ließ sich berichten. Nahm ab und zu einen Schluck aus seiner Tasse, wechselte die Beinstellung oder verschränkte die Arme vor der Brust. Manchmal lächelte er, ansonsten hörte er konzentriert zu.
»Und jetzt sind Sie, wenn ich das richtig verstehe, davon überzeugt, dass Thiel unschuldig ist?« Eine gewisse Herablassung war nicht zu überhören.
»Vielleicht nicht überzeugt«, sagte Pieplow. »Aber ich halte es für mehr als
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