Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
anzuhören!« Ehmke hatte sich nicht zu Willeke umgedreht. Er sah die Staatsanwältin an und schien Unterstützung zu erwarten.
»Herr Ehmke hat Recht«, pflichtete sie ihm bei. »Also wenn Sie …«
»Ich werde mich bemühen«, sagte Willeke auf eine Weise, die das Gegenteil ahnen ließ. Er trank einen Schluck Wasser, dann nahm er seine Wanderung und seine Rede wieder auf.
»Die Geschichte, wie gesagt. Im Hinblick auf das, was für uns von Interesse ist, beginnt sie am 14. Oktober 1988. Die Tage sind schon kurz, aber noch warm. Der Mann, von dem …«
»Lassen Sie doch endlich diesen schwülstigen
Scheiß. Nennen Sie den Kerl beim Namen und kommen Sie endlich zur Sache!« Jetzt wandte Ehmke den Kopf. An seinem gestreckten Hals waren blau und pochend die Adern hervorgetreten.
»Sie haben ja Recht, Herr Ehmke. Rohrbachs Namen nicht zu nennen ist in der Tat ein wenig melodramatisch. Eine Anwaltsschwäche, die ich eingestehe. Thomas Rohrbach ist also an jenem Oktoberabend gegen zehn Uhr unterwegs. Er hat seine Verlobte besucht und will nach Hause. An seinem Weg aber liegt in der Barnimstraße ein Garten, den er von früheren Abenden kennt, in den er schon mehrmals durch die Hecke eingedrungen ist. Er weiß, wo er Deckung findet und doch einen ungehinderten Blick auf das Haus und in die erleuchteten Fenster im Erdgeschoss hat. Er ist das, was wir einen Spanner nennen. Ein Voyeur. Einer, dem der Blick auf fremde Lust eine Befriedigung verschafft, die er sonst nicht erfährt. Seit seiner Jugend ist das so. Warum, weiß er nicht. Es ist etwas in ihm, das ihn treibt, das ihm mehr Lust verschafft als Angst bereitet. Bisher ist er unentdeckt geblieben. An diesem Abend jedoch verständigt das junge Paar, vor dessen Fenster er steht, die Polizei. Rohrbach wird verhaftet und der Kriminalpolizei überstellt. Dort hat, und Rohrbach hält das trotz aller Scham für sein Glück, ein Unterleutnant Dienst, den er kennt. Gut sogar. Er ist im selben Dorf aufgewachsen und bereit, Anzeige und Festnahmeprotokoll verschwinden zu lassen. Aus alter Freundschaft und für die eine oder andere Gegenleistung. Die Zeiten
sind unruhig damals, die Vertreter der Staatsmacht an Informationen jedweder Art interessiert. Rohrbach stimmt zu und kann ein Jahr später sein Glück kaum fassen, dass es die Staatsmacht nicht mehr gibt, der er dann und wann zugearbeitet hat. Er heiratet, wird zusammen mit seiner Frau an die Schule versetzt, die er selbst einst besucht hat, und zieht zurück in das Dorf, in dem er aufgewachsen ist. Eine Weile glaubt er, die Ehe habe ihn von seiner unglückseligen Veranlagung befreit. Mitnichten. Schon bald zieht er wieder los. Über Campingplätze, in Sommerhausgärten, durch nächtliche Kiefernschonungen am Strand entlang. Nicht immer bleibt er unentdeckt, kann aber jedes Mal entkommen. Es gibt zwar ein paar Anzeigen gegen Unbekannt, aber die verlaufen im Sande.«
In der Runde um den Besprechungstisch wurde es unruhig. Jemand scharrte mit den Füßen. Ehmke hustete. Die Staatsanwältin zog ihren Stuhl zurück an den Tisch und sah demonstrativ auf ihre Armbanduhr.
Halb elf.
Wie lange sollte das Ganze noch dauern?
Thiel fühlte sich fiebrig. Kalter Schweiß lag auf seiner Haut, und seine Muskeln schmerzten. Der Druck in seiner Brust war unerträglich geworden. Wenn das hier nicht bald ein Ende hatte, würde sein Herz explodieren.
Willeke hob beide Hände. Noch ein wenig Geduld, sagte die Geste. Gleich ist es so weit.
»Kommen wir also zum Schluss der Geschichte«,
sagte er und nahm seine Wanderung zwischen Schreibtisch und Fenster wieder auf. »Er beginnt damit, dass Manuela Fischer aus Gründen, die wir nicht kennen, nach Groß Zicker zurückkehrt. Sie bezieht ein Häuschen am Dorfrand, umgeben von Buschwerk und niedrigen Kiefern. Wie geschaffen, um sich dort zu verbergen. Sooft es geht, schleicht Rohrbach sich dorthin. Beobachtet sie bei allem, was sie tut. Allein oder mit den Männern, die sie bei sich einlässt. Er kennt sie alle. Und er weiß, wen sie zurückweist. Einen, der es nicht gewohnt ist, dass man sich ihm widersetzt. Der stets bekommt, was er will. Nur von Manuela nicht, die sich stattdessen mit irgendwelchen Dahergelaufenen abgibt. Sören Jensen, polnischen Arbeitern und – natürlich – Heiner Thiel, der sie in der Nacht des 31. Juli zwar nach Hause begleitet, aber nicht bei ihr bleibt. Sie möchte an diesem Abend allein sein. Trotzdem öffnet sie, als es kurze Zeit später klopft. Vor ihr steht
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