Brandherd
ich. »Ich hoffe nicht, dass man mich wirklich so sieht.«
Sie sagte nichts.
»Ich selbst sehe mich bestimmt nicht so«, sagte ich. »Im Gegenteil, Teun. Vielleicht bin ich einfach reservierter, weil ich es muss. Vielleicht bin ich verschlossener, weil ich es von jeher gewesen bin, und, nein, ich habe auch keinerlei Hang dazu, meine Sünden öffentlich z u bekennen. Allerdings fälle ich auch nicht ständig Urteile über meine Mitmenschen. Und Sie dürfen mir glauben, dass ich mit mir selbst viel kritischer bin, als ich es Ihnen gegenüber jemals wäre.«
»Da habe ich einen ganz anderen Eindruck. Mir scheint, Sie prüfen mich ständig auf Herz und Nieren, um sich zu vergewissern, ob ich die geeignete Ausbilderin für Lucy bin und keinen verderblichen Einfluss auf sie habe.«
Auf diese Anschuldigung wusste ich keine Antwort, denn es stimmte.
»Ich weiß nicht einmal, wo sie ist«, ging mir plötzlich auf.
»Das kann ich Ihnen sagen. Sie ist in Philly. Pendelt munter hin und her zwischen der Außenstelle und ihrer neuen Wohnung.«
Eine Weile spielte nur die Musik, und während die Umgehungsstraße uns um Baltimore führte, musste ich an den Medizinstudenten denken, der ebenfalls in einem Feuer umgekommen war, wo Verdacht auf Brandstiftung bestanden hatte.
»Teun«, sagte ich, »wie viele Kinder haben Sie?«
»Eins. Einen Sohn.«
Ich merkte, dass das für sie kein erfreuliches Thema war.
»Wie alt ist er?«
»Joe ist sechsundzwanzig.«
»Wohnt er in Ihrer Nähe?«
Ich starrte aus dem Fenster auf reflektierende Verkehrsschilder. Sie zeigten Ausfahrten zu Straßen von Baltimore an, die ich einmal sehr gut gekannt hatte, als ich an der Johns Hopkins University Medizin studierte.
»Offen gestanden, ich weiß nicht, wo er wohnt«, sagte sie. »Wir haben uns niemals nahe gestanden. Ich bin mi r nicht sicher, ob Joe überhaupt jemals irgendjemandem nahe gestanden hat. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob das überhaupt jemand wollen kann.«
Ich wollte nicht bohren, aber sie wollte reden.
»Ich wusste, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmte, als er sich im zarten Alter von zehn Jahren an die Hausbar machte. Er ging an Gin und Wodka und füllte dann Wasser in die Flaschen, weil er dachte, er könnte uns damit täuschen. Mit sechzehn war er ein hemmungsloser Alkoholiker und immer wieder in Behandlung. Mal gab es Anzeigen wegen Trunkenheitsdelikten, mal wegen Störung der öffentlichen Ordnung, dann wegen Diebstählen. So kam eins zum anderen. Mit neunzehn ging er von zu Hause weg, flippte in der Gegend herum und brach schließlich jeglichen Kontakt ab. Ehrlich gesagt, ich glaube, dass er sich irgendwo als Penner rumtreibt.«
»Da haben Sie ein schweres Leben gehabt«, sagte ich.
14
Es war fast sieben, als McGovern mich im Sheraton Hotel am Society Hill absetzte. Die Atlanta Braves waren gerade dort abgestiegen. Groupies, alte und junge, ausstaffiert mit Baseballjacken und -kappen, strichen durch Flure und Bars und hielten große Fotos ihrer Idole hoch, um Autogramme von ihnen zu erhaschen. Man hatte den Sicherheitsdienst gerufen. Ein verzweifelter Mann hielt mich an, als ich durch die Drehtür kam.
»Haben Sie sie gesehen?«, fragte er mich, während seine Blicke wild hin und her zuckten.
»Wen denn?«, fragte ich zurück.
»Die Braves!«
»Wie sehen die denn aus?«, fragte ich.
Ich stellte mich in die Schlange, um einzuchecken, und wollte nur noch eins: ein langes, heißes Bad. Wir hatten südlich von Philadelphia zwei Stunden im Stau gestanden. Fünf Autos und ein Transporter waren ineinander geknallt, und Glassplitter und verbogenes Metall lagen über sechs Spuren verstreut. Danach war es zu spät gewesen, um bis zum Leichenschauhaus von Lehigh County weiterzufahren. Das würde bis morgen warten müssen. Ich nahm den Fahrstuhl zum vierten Stock und öffnete das elektronische Türschloss mit Hilfe meiner Plastikkarte. Ich zog die Vorhänge auf und blickte auf den Delaware River und die Masten der Moshulu hinaus, die an Penn's Landing vertäut lag. Da stand ich plötzlich mit meiner wasserdichten Tasche, meinem Aluminiumkoffer und der Handtasche in Philadelphia. Das Nachrichtenlämpchen a m Telefon blinkte. Bentons Stimme teilte mir mit, dass er im selben Hotel wohnen werde und käme, so schnell es der New Yorker Verkehr erlaube. Ich könne etwa um neun Uhr mit ihm rechnen. Lucy hatte mir ihre neue Telefonnummer hinterlassen. Sie wusste nicht, ob sie mich treffen können würde oder nicht. Marino
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