Brandherd
wie das Messer weiter runtergewandert ist.«
Er machte es vor, indem er mit einem imaginären Messer durch die Luft schnitt.
»Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass eine Menge davon abhängt, in welcher Stellung der Angreifer sich zum Opfer befunden hat, als es den Schnitt abbekam«, bemerkte ich. »Stand das Opfer oder lag es? Befand der Angreifer sich vor oder hinter oder neben oder auf ihm?«
»Ganz richtig«, sagte Vessey.
Er ging zu einem dunklen Eichenschrank mit Glastüren, hob einen alten braunen Schädel aus einem Fach, brachte ihn zu uns herüber und reichte ihn mir. Er wies auf einen auffälligen, groben Einschnitt im parietalen und okzipitalen Bereich beziehungsweise auf der linken Seite, hoch oberhalb des Ohrs.
»Sie haben nach Skalpierungen gefragt«, sagte er zu mir. »Ein acht- oder neunjähriges Kind, erst skalpiert, dann verbrannt. Das Geschlecht kann ich nicht bestimmen, aber ich weiß, dass das arme Ding eine Infektion am Fuß hatte.
Er oder sie konnte also nicht rennen. Derartige Schnitte und Kerben kommen beim Skalpieren ziemlich häufig vor.«
Ich hielt den Schädel in der Hand und stellte mir einen Augenblick vor, was Vessey gerade gesagt hatte: Ein am Boden kauerndes, verkrüppeltes Kind, dessen Blut zu Boden strömte, während sein schreiendes Volk massakriert wurde und das Lager in Flammen aufging.
»Scheiße«, murmelte Marino wütend. »Wie kann man denn einem Kind so was antun?«
»Wie kann man überhaupt so was tun?«, sagte ich und setzte, an Vessey gewandt, hinzu: »Der Schnitt an dem hier« - ich wies auf den Schädel, den ich mitgebracht hatte - »wäre aber für Skalpieren ungewöhnlich.«
Vessey holte tief Luft und atmete sie langsam wieder aus.
»Wissen Sie, Kay«, sagte er, »so was ist nie ganz genau dasselbe, sondern hängt immer von den Umständen ab. Es gab viele Methoden, wie die Indianer ihre Feinde skalpierten. Gewöhnlich wurde die Haut kreisförmig eingeschnitten bis auf den Knochen, sodass sie sich leicht von der Schädelwölbung entfernen ließ. Manchmal war es ein einfaches Skalpieren, dann wieder wurden Ohren, Augen, Gesicht und Hals mit einbezogen. Bei manchen Gelegenheiten wurden von demselben Opfer mehrfach Skalps genommen, oder vielleicht wurde auch nur die Skalplocke oder der kleine Bereich auf der Schädelplatte entfernt. Dann wieder, und das ist die Art und Weise, die man gewöhnlich in alten Western sieht, packte man das Opfer gewaltsam beim Haar und schnitt ihm die Haut mit einem Messer ab oder säbelte sie weg.«
»Trophäen«, sagte Marino.
»Das und zudem das wichtigste Machosymbol fü r Können und Mut überhaupt«, sagte Vessey. »Selbstverständlich gab es gleichzeitig kulturelle, religiöse und selbst medizinische Motive. In Ihrem Fall«, sagte er zu mir, »wissen wir, dass sie nicht erfolgreich skalpiert wurde, weil sie ihr Haar noch hatte, und darüber hinaus fällt mir auf, dass die Verletzung des Knochens sorgfältig mit einem sehr scharfen Instrument zugefügt worden ist. Einem sehr scharfen Messer. Vielleicht einer Rasierklinge oder einem Teppichmesser. Sie wurde zugefügt, während das Opfer noch lebte, und war nicht die Todesursache.«
»Nein, was sie getötet hat, ist ihre Halsverletzung«, stimmte ich zu.
»Weitere Schnitte kann ich nicht finden, außer eventuell hier.«
Er führte die Lupe näher an das linke Jochbein bzw. den Wangenknochen heran. »Etwas sehr Schwaches«, murmelte er. »Zu schwach, als dass man sicher sein könnte. Sehen Sie es?«
Ich trat dicht neben ihn, um sehen zu können.
»Kann sein«, sagte ich. »Fast so fein wie ein Spinnwebfaden.«
»Genau. So schwach. Und vielleicht ist es ja nichts, doch interessanterweise befindet es sich in einem sehr ähnlichen Winkel wie der andere Schnitt. Vertikal statt horizontal oder diagonal.«
»Was sind denn das für abstruse Geschichten«, sagte Marino mit finsterer Miene. »Ich meine, betrachten wir das Ganze doch mal konkret. Was sollen wir denn hieraus folgern? Dass irgendein Irrer dieser Dame erst die Kehle durchgeschnitten und ihr dann das Gesicht verstümmelt hat? Und danach das Haus anzündete?«
»Das ist durchaus eine Möglichkeit, ja«, sagte Vessey.
»Also, damit jemand seinem Opfer das Gesicht verstümmelt, muss was Persönliches im Spiel sein«, fuhr Marino fort. »Wenn man es nicht gerade mit einem total Irren zu tun hat, gibt es keine Mörder, die die Gesichter von Opfern verstümmeln, zu denen sie keine persönliche Beziehung
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