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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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geschaffen,
Brandbomben aufzufangen, an die kein Mensch drankommt.
    Langby zeigt mir, wie man eine Brandbombe mit Sand erstickt, ehe
sie sich durchs Dach fressen und die Kathedrale entflammen kann. Er
zeigt mir die Taue, die zusammengerollt auf einem Haufen am Fuß
der Kuppel liegen, für den Fall, daß mal jemand auf einen
der Westtürme oder über die Spitze der Kuppel klettern
muß. Wieder drinnen und hinunter zur Flüstergalerie.
    Während der gesamten Tour gab Langby laufend Kommentare von
sich, teils praktische Tips, teils Geschichte der Kathedrale. Ehe wir
in die Galerie gingen, schleppte er mich zum Südportal, um mir
zu erzählen, wie Christopher Wren damals inmitten der rauchenden
Trümmer der zerstörten Kathedrale stand und einem Arbeiter
befahl, ihm vom Friedhof einen Grabstein zu bringen, damit er den
Grundstein markieren konnte. Der Stein enthielt die lateinische
Inschrift: ›Ich werde wiederauferstehen.‹ Von dieser Ironie
war Wren so beeindruckt, daß er die Worte über dem Portal
anbringen ließ. Langby sah so zufrieden aus, als hätte er
mir nicht etwas erzählt, das jeder Student schon im ersten
Semester weiß. Doch ohne den Eindruck, den der Stein der
Brandwache hinterläßt, ist das vielleicht wirklich eine
ganz nette Geschichte.
    Langby setzte mich die Stufen hinauf zu dem schmalen Steg, der die
Flüstergalerie umgibt. Er rannte voraus auf die andere Seite,
wobei er mir Maße und etwas über die Akustik zurief. Dann
stellte er sich so hin, daß er mir das Gesicht zukehrte, und
sagte leise: »Die Form der Kuppel bewirkt, daß du mich
flüstern hörst. Die Schwallwellen werden verstärkt,
wenn sie um das Gewölbe herumlaufen. Bei einem Luftangriff
hört es sich hier an, als ginge die Welt unter. Die Kuppel hat
einen Durchmesser von einhundertsieben Fuß und erhebt sich
achtzig Fuß hoch über dem Mittelschiff.«
    Ich schaute hinunter. Das Geländer wich zurück, und der
Boden aus schwarzem und weißem Marmor sauste mir mit
bestürzender Geschwindigkeit entgegen. Ich klammerte mich an
irgend etwas fest und sank auf die Knie. Mir war schwindlig, und ich
verspürte Übelkeit. Die Sonne brach durch die Wolkendecke,
und die ganze Kirche schien wie in Gold getaucht. Sogar die
Holzschnitzereien des Chorgestühls, die weißen
Steinsäulen und die bleigrauen Orgelpfeifen, alles war
plötzlich wie aus Gold.
    Langby beugte sich über mich und versuchte, meinen
Klammergriff zu lösen. »Bartholomew!« schrie er.
»Was ist los? Um Gottes willen, Mann!«
    Eigentlich hätte ich ihm jetzt sagen müssen, daß
St. Paul und die ganze Vergangenheit auf mich stürzten, wenn ich
losließ, und daß ich das nicht geschehen lassen durfte,
weil ich ein Historiker war. Ich sagte etwas, aber nicht das, was ich
sagen wollte, denn Langby packte fester zu. Mit Gewalt zerrte er mich
vom Geländer fort und zur Treppe zurück, wo ich kraftlos
auf den Stufen zusammenbrach. Langby blieb neben mir stehen und
schwieg.
    »Ich weiß selbst nicht, was mir vorhin da drinnen
passierte«, murmelte ich. »Bis jetzt litt ich noch nie
unter Höhenangst.«
    »Du zitterst«, versetzte er scharf. »Leg dich
lieber einen Moment hin.« Er brachte mich in die Krypta
zurück.

25. September
    Memoriere das ZVD-Handbuch: Symptome bei Bombenopfern. Erstes
Stadium – Schockzustand; Abgestumpftheit; Verletzungen werden
nicht bemerkt; unzusammenhängendes Gestammel. Zweites Stadium
– Zittern; Übelkeit; Verletzungen, Verluste, werden
wahrgenommen; Rückkehr in die Realität. Drittes Stadium
– Zwang zum unkontrollierten Sprechen; Wunsch, den Rettern
Schockverhalten zu erklären.
    Langby mußte die Symptome erkannt haben, doch wie
erklärte er sich, daß sie nicht im Zusammenhang mit einem
Bombenangriff auftraten? Ich konnte ihm jedenfalls mein
Schockverhalten nicht erklären, und das nicht nur, weil das
heilige Schweigen des Historikers mich daran hinderte.
    Er sagte nichts, sondern teilte mich für meine erste Wache
morgen nacht ein, als sei nichts passiert. Er macht nicht den
Eindruck, als sei er besorgter als die anderen. Jeder, den ich bis
jetzt kennenlernte, ist nervös (in meinem
Kurzzeitgedächtnis haftet die Information, wie ruhig alle
während der Luftangriffe blieben). Dabei hat sich uns, seit ich
hier bin, noch keine Fliegerstaffel genähert. Die Bomben fielen
fast alle auf das East End und die Hafendocks.
    Heute abend erwähnte jemand eine UB, und ich grüble
über das Verhalten des Dekans nach und verstehe nicht ganz,
daß die Kirche

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