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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Kommunisten den Brand gelegt hatten. Eine
Schlagzeile aus einer Tageszeitung. ›Bombe schlägt in
Marble Arch ein. Explosion fordert achtzehn Todesopfer.‹ Das
Datum war verschwommen, nur das Jahr wußte ich genau. 1940. Das
Jahr 1940 hatte noch zwei Tage. Ich schnappte mir Mantel und Schal,
flitzte die Treppe hoch und rannte über den Marmorboden.
    »Wo zum Teufel willst du denn jetzt hin?« hörte ich
Langby brüllen. Sehen konnte ich ihn nicht.
    »Ich muß Enola retten!« rief ich. Meine Stimme
hallte in dem dunklen Kirchenschiff. »Sie werden Marble Arch
bombardieren.«
    »Du kannst doch jetzt nicht weg!« schrie er mir nach. Er
stand genau da, wo später der Brandwachenstein hinkommen sollte.
»Es ist Ebbe. Du dreckiger…«
    Den Rest hörte ich nicht mehr. Ich sauste die Stufen hinunter
und warf mich in ein Taxi. Die Fahrt kostete mich beinahe mein
letztes Geld, das Geld, das ich so sorgfältig für die
Heimreise nach St. John’s Wood gespart hatte. Als die ersten
Bomben fielen, waren wir immer noch in der Oxford Street, und der
Fahrer weigerte sich weiterzufahren. Er ließ mich in der
Stockfinsternis aussteigen, und ich merkte, daß ich es nicht
mehr rechtzeitig schaffte.
    Explosion. Enola zusammengesunken auf der Treppe zum
U-Bahn-Schacht, die Füße immer noch in den offenen
Sandalen, äußerlich keine Verletzungen. Als ich sie
hochheben will, fühlt sie sich unter der Haut wie Gelee an. Ich
werde sie in den Schal, den sie mir schenkte, einwickeln müssen,
weil ich zu spät kam. Einhundert Jahre war ich
zurückgereist, und ich kam zu spät, um sie zu retten.
    Die letzten Blocks legte ich rennend zurück, wobei ich mich
an der Stellung der Geschütze orientierte, die sich im Hyde Park
befinden mußten. Ich hetzte die Treppen zur Station Marble Arch
hinunter. Die Frau am Schalter nahm mir meinen letzten Shilling
für einen Fahrschein nach St. Paul ab. Ich steckte ihn in die
Tasche und raste zur Treppe.
    »Nicht rennen«, sagte sie gemütlich. »Nach
links, bitte.« Die Tür zur Rechten war mit Holzbarrikaden
versperrt, das Metallgitter geschlossen und durch eine Kette
gesichert. Das Schild, auf dem die Namen der U-Bahn-Stationen
standen, mit Klebeband durchkreuzt. An die Barrikade hatte man ein
neues Schild genagelt. Es wies nach links und trug die Aufschrift:
›Alle Richtungen.‹
    Enola hockte weder auf der stehenden Rolltreppe, noch saß
sie, den Rücken gegen die Wand gelehnt, im Tunnel. Ich erreichte
die erste Treppe, kam aber nicht weiter. Auf den Stufen hatte sich
eine Familie ausgebreitet, sie hielt dort offenbar ihre Teestunde ab.
Butterbrote, ein kleiner Topf Marmelade, mit Pergamentpapier
verschlossen, und auf einem Gaskocher wie dem, den Langby und ich aus
dem Schutt gegraben hatten, stand ein Kessel. Unter dem ganzen Kram
lag eine Decke, in deren Ecken Blumen eingestickt waren. Ich stand da
und starrte auf die Teetafel, die sich wie ein Wasserfall über
die Stufen erstreckte.
    »Ich… Marble Arch…«, stotterte ich. Zwanzig
weitere Personen kamen durch umherfliegende Kacheln ums Leben.
»Sie dürfen sich hier nicht aufhalten.«
    »Wir haben das gleiche Recht, uns hier aufzuhalten wie jeder
andere«, entgegnete der Mann streitlustig. »Wie kommst du
dazu, uns hier wegzujagen?«
    Eine Frau, die Unterteller aus einem Karton holte, blickte
erschrocken zu mir hoch. Der Kessel fing an zu pfeifen.
    »Mach, daß du hier wegkommst«, sagte der Mann.
»Hau schon ab!« Er machte mir Platz, damit ich
vorbeikonnte. Ich paßte auf, daß ich nicht auf das
bestickte Tuch trat.
    »Entschuldigung«, sagte ich. »Ich suche jemand. Auf
dem Bahnsteig.«
    »Da drinnen findest du sie nie, Kumpel«, sagte der Mann
und deutete mit dem Daumen in die Richtung. Ich spurtete an ihm
vorbei, wobei ich beinahe doch noch auf das Tischtuch getreten
wäre. Als ich um die Ecke bog, erwartete ich die Hölle.
    Es war aber nicht die Hölle. Verkäuferinnen falteten
Mäntel zusammen und stopften sie sich als Lehne in den
Rücken. Sie machten fröhliche, mürrische oder
böse Gesichter, aber sie sahen keineswegs aus wie Verdammte.
Zwei Jungen balgten sich so lange um einen Shilling, bis er ihnen auf
die Schienen fiel. Sie beugten sich über die Bahnsteigkante und
beratschlagten, ob sie ihn holen sollten, dann rief ein Mann von der
Aufsicht ihnen zu, sie müßten zurücktreten. Ein
vollbesetzter Zug rumpelte vorbei. Eine Fliege setzte sich auf die
Hand des Mannes, er schlug nach ihr und verfehlte sie. Die Jungen
lachten. Hinter

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