Brandwache
herabgefallenen Glitzerschmuck, als Enola
plötzlich aus dem Nebel auftauchte wie eine fröhliche
Heilige. Sie ging rasch in die Hocke und drückte mir einen
Kuß auf die Wange. Dann richtete sie sich wieder auf und gab
mir eine in buntes Papier gewickelte Schachtel.
»Frohe Weihnachten!« sagte sie. »Na los, mach schon
auf! Das ist ein Geschenk für dich.«
Ich habe fast keine Reflexe mehr. Ich wußte, daß die
Schachtel für eine Flasche Brandy viel zu flach war. Trotzdem
glaubte ich, sie hätte sich erinnert und mir die Rettung
gebracht. »Du bist ein Schatz«, sagte ich, während ich
die Verpackung aufriß.
Es war ein Schal. Graue Wolle. Ich starrte mindestens eine halbe
Minute darauf, ehe ich begriff, was das sein sollte. »Wo ist der
Brandy?« fragte ich.
Sie machte ein erschrockenes Gesicht. Ihre Nase wurde noch
röter, und ihre Augen schwammen in Tränen. »Den Schal
brauchst du dringender. Du hast doch keine Kleidermarken, und du
mußt andauernd draußen stehen. In den letzten Tagen war
es erbärmlich kalt.«
»Ich brauche aber den Brandy«, entgegnete ich
verärgert.
»Ich wollte nur nett zu dir sein.« Sie hätte noch
mehr gesagt, aber ich fiel ihr ins Wort.
»Nett?« fragte ich. »Ich habe dich gebeten, mir
Brandy zu besorgen. Ich kann mich nicht erinnern, den Wunsch nach
einem Schal geäußert zu haben.«
Ich gab ihn ihr zurück und begann, eine Girlande aus bunten
Lichtern zu entwirren, die beim Fallen zerplatzt waren.
Sie setzte die gleiche Märtyrermiene auf, wie Kivrin das so
gut kann.
»Dabei mache ich mir die ganze Zeit über Sorgen um
dich«, sprudelte sie los. »Die versuchen doch, St. Paul zu
treffen, weißt du. Und der Fluß liegt so nah. Ich finde,
du solltest lieber nicht trinken. Ich… es ist ein Verbrechen,
wenn du nicht auf dich aufpaßt, wo sie alles tun, um uns
umzubringen. Es ist ja fast so, als ob du mit ihnen gemeinsame Sache
machtest. Manchmal habe ich Angst, daß ich eines Tages hier
hochkomme, und du bist nicht mehr da.«
»Und was nützt mir der Schal? Soll ich ihn mir über
den Kopf halten, wenn sie die Bomben werfen?«
Sie machte kehrt und lief fort. Schon nach zwei Schritten hatte
der graue Nebel sie verschluckt. Ich wollte ihr hinterher, aber ich
verhedderte mich in der Lichterkette, die ich immer noch in der Hand
hielt, stolperte und fiel beinahe sämtliche Stufen bis zum
Fuß der Treppe hinunter.
Langby half mir beim Aufstehen. »Deine Wache ist
gestrichen«, sagte er mit grimmiger Miene.
»Das kannst du nicht tun«, erwiderte ich.
»O doch, das kann ich. Oben auf den Dächern will ich
keine wandelnden Leichen bei mir haben.«
Ich ließ mich von ihm nach unten in die Krypta bringen, er
brühte mir eine Tasse Tee auf, brachte mich zu Bett, alles sehr
fürsorglich. Er verrät durch nichts, daß er auf diese
Situation nur gelauert hat. Ich bleibe hier liegen, bis die Sirenen
heulen. Wenn ich erst mal oben auf den Dächern bin, kann er mich
nicht zurückschicken, ohne sich verdächtig zu machen.
Wissen Sie, was er sagte, ehe er ging, angetan mit Gummistiefeln und
Asbestmantel, die opferbereite Brandwache?
»Ich will jetzt, daß du schläfst.« Als ob ich
schlafen könnte, solange ich Langby oben auf den Dächern
weiß. Ich will schließlich nicht bei lebendigem Leib
verbrennen.
30. Dezember
Die Sirenen weckten mich, und der alte Bence-Jones sagte:
»Das hat dir bestimmt gutgetan. Du schliefst einmal um die
Uhr.«
»Was für ein Tag ist heute?« fragte ich,
während ich nach meinen Stiefeln tauchte.
»Der neunundzwanzigste«, antwortete er. Als er sah, wie
ich zur Tür stürzte, setzte er hinzu: »Du brauchst
dich nicht zu beeilen. Heute nacht kommen sie spät. Vielleicht
kommen sie auch gar nicht. Das wäre ein Segen. Wir haben
Ebbe.«
An der Tür, die zur Treppe führte, blieb ich stehen. Ich
hielt mich an den Steinen fest. »Ist St. Paul nichts
passiert?«
»St. Paul steht noch«, antwortete er. »Schlecht
geträumt?«
»Ja«, entgegnete ich und dachte an die Alpträume
der vergangenen Wochen – wie ich in St. John’s Wood die
tote Katze auf dem Arm hielt, Langby mit seinem Paket und dem Arbeiter unter dem Arm, den Stein der Brandwache, auf den das
helle Licht der Christuslaterne fiel. Dann wurde mir bewußt,
daß ich dieses Mal überhaupt nichts geträumt hatte.
Ich war in den Schlummer gefallen, um den ich gebetet hatte, der mir
dabei half, mich zu erinnern.
Und dann kam die Erinnerung. Nicht die rauchenden Trümmer von
St. Paul, nachdem die
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