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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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ihnen und vor ihnen, überall in den gekachelten
Tunneln, in den Nischen der Eingänge und auf den Treppen,
saßen oder lagen Menschen. Hunderte von Menschen.
    Ich stolperte in die Vorhalle zurück und stieß dabei
eine Teetasse um. Auf dem Tuch entstand ein großer nasser
Fleck.
    »Hab’ ich’s dir nicht gesagt, Kumpel?« fragte
der Mann aufgeräumt. »Das da drinnen ist die Hölle,
nicht? Und unten ist es noch schlimmer.«
    »Die Hölle«, sagte ich. »Ja.« Ich
würde sie niemals finden. Ich konnte sie nicht retten. Ich
betrachtete die Frau, die den Tee aufwischte, und mir fiel ein,
daß ich sie auch nicht retten konnte. Nicht Enola, nicht den
Kater, keinen von denen, die sich in diesen endlosen
Treppenaufgängen und Sackgassen der Zeit verloren. Sie waren ja
schon seit hundert Jahren tot, jede Rettung kam zu spät. Was
vergangen ist, kann man nicht retten. Bestimmt hatte mich die
Historische Fakultät deshalb hierhingeschickt, damit ich das
lernte. Na schön, ich hab’s begriffen. Kann ich jetzt
wieder nach Hause zurück?
    Natürlich nicht, mein lieber Junge. Du gabst dummerweise dein
ganzes Geld für Taxifahrten und Brandy aus, und heute nacht
lassen die Deutschen die City in Flammen aufgehen. (Jetzt, wo es zu
spät ist, erinnere ich mich an alles. Achtundzwanzig Brandbomben
auf den Dächern.) Langby bekommt seine Chance, und du
erhältst deine schwerste Lektion. Du mußt einsehen, was du
von Anfang an hättest wissen müssen: Du kannst St. Paul
nicht retten.
    Ich ging zum Bahnsteig zurück und wartete hinter der gelben
Linie, bis ein Zug hielt. Den Fahrschein holte ich aus der Tasche und
hielt ihn in der Hand, bis der Zug in der Station St. Paul einfuhr.
Als ich nach draußen kam, wehte mir Rauch wie ein dünner
Vorhang aus Wasser entgegen. St. Paul konnte ich nicht sehen.
    »Es ist Ebbe«, sagte eine Frau mit tonloser Stimme. Ich
stürzte in eine Grube, in der sich schlaffe Wasserschläuche
wie Schlangen ringelten. Als ich die Hände hob, klebte an ihnen
ein übelriechender Schlamm, und jetzt begriff ich endlich (zu
spät), was die Ebbe bedeutete. Es gab kein Wasser, um die
Brände zu löschen.
    Ein Polizist trat mir in den Weg. Hilflos stand ich vor ihm und
wußte nicht, was ich sagen sollte. »Für Zivilisten
ist hier gesperrt«, belehrte er mich. »Diesmal hat es St.
Paul erwischt.« Der Qualm ballte und türmte sich wie eine
Gewitterwolke, es regnete Sprühschauer aus Funken, und
darüber erhob sich die goldglänzende Kuppel.
    »Ich gehöre zur Brandwache«, sagte ich. Er
ließ mich vorbei, und dann war ich auf den Dächern.
    Mein Endorphinpegel muß verrückt gespielt haben. Von
diesem Zeitpunkt an haftet nichts mehr in meinem
Kurzzeitgedächtnis, nur Bilder, die nicht zusammenpassen: die
Leute in der Kirche, als wir Langby hinunterbrachten, ein paar
hockten in einer Ecke zusammen und spielten Karten; der Wirbelsturm
aus glühenden Holzsplittern in der Kuppel; der Fahrer des
Krankenwagens, der wie Enola offene Sandalen trug und mir Salbe auf
die verbrannten Hände schmierte. Das alles rankt sich um die
einzige Szene, an die ich mich deutlich erinnere, wie ich mich an
einem Seil zu Langby hinunterließ und ihm das Leben
rettete.
    Ich stand in der Nähe der Kuppel und blinzelte gegen den
Qualm an. Die City war ein einziges Flammenmeer, und es kam mir so
vor, als könne sich St. Paul allein durch die abstrahlende Hitze
entzünden, durch den Höllenlärm zum Einsturz gebracht
werden. Ich erspähte Bence-Jones am Nordwestturm, wie er mit
einem Spaten auf eine Brandbombe einschlug. Langby stand mir ein
bißchen zu nahe an der ausgebesserten Stelle, wo die Bombe das
Loch gerissen hatte. Er sah in meine Richtung. Hinter ihm fiel mit
Getöse eine Brandbombe auf das Dach. Ich drehte mich um,
schnappte mir eine Schaufel, und als ich wieder hinblickte, war
Langby nicht mehr da.
    »Langby!« Obwohl ich aus Leibeskräften schrie,
konnte ich meine eigene Stimme nicht hören. Er war in das Loch
gestürzt, und keiner sah ihn oder die Brandbombe. Nur ich
wußte, wo er war. Wie ich über das Dach kletterte,
weiß ich nicht mehr. Ich glaube, ich schrie nach einem Seil.
Jedenfalls bekam ich eines. Ich band es mir um die Taille,
drückte die Enden einem von der Brandwache in die Hand und
schwang mich über die Kante des Abbruchs. Der Widerschein der
Flammen beleuchtete das Loch fast bis auf den Grund.
    Unter mir sah ich einen Haufen weißlichen Schutts. Da
drunten liegt er, dachte ich und sprang auf den Boden. Hier unten

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