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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Was war der Grund für deinen
Schwächeanfall? Quälte dich dein schlechtes Gewissen? Wie
ein kleiner Junge lagst du auf den Knien und winseltest: ›Was
haben wir getan? Was haben wir getan?‹ Es war abstoßend.
Soll ich dir sagen, was dich das erstemal verriet? Der Kater. Jeder
weiß doch, daß Katzen wasserscheu sind. Jeder außer
einem dreckigen Nazi-Spion.«
    Am Seil gab es einen Ruck. »Zieht ihn langsam hoch!«
rief ich. Das Tau straffte sich.
    »Diese FFD-Schnepfe. War sie auch ein Spitzel? Ihr wolltet
euch in Marble Arch treffen, nicht wahr? Mir zu erzählen, die
Station würde bombardiert! Du bist ein ganz gemeiner Spion,
Bartholomew. Deine Freunde haben Marble Arch schon im September
bombardiert. Jetzt ist die Station wieder in Betrieb.«
    Plötzlich gab es am Seil einen scharfen Zug, und Langby
schwebte langsam nach oben. Er drehte die Hände, um sich einen
festen Halt zu verschaffen. Seine rechte Schulter scheuerte an der
Wand entlang. Ich hob die Arme und drückte ihn vorsichtig herum,
bis seine linke Seite zur Mauer wies. »Du begehst einen
großen Fehler«, sagte er. »Du hättest mich
umbringen sollen. Ich werde dich anzeigen.«
    Im Dunkeln stand ich da und wartete auf das Seil. Als sie Langby
oben hatten, war er ohnmächtig. An der Brandwache vorbei ging
ich zur Kuppel und hinunter in die Krypta.
    Heute morgen kam der Brief von meinem Onkel mit einer
Zehn-Pfund-Note.

31. Dezember
    Zwei von Dunworthys Lakaien holten mich in St. John’s Wood ab
und behaupteten, ich käme zu spät zum Examen. Ich
protestierte nicht mal. Gehorsam schlurfte ich hinter ihnen her, ohne
darüber nachzudenken, wie unfair es war, eine wandelnde Leiche
ins Examen zu schicken. Ich hatte nicht mehr geschlafen seit –
seit wann? Seit gestern, als ich Enola suchen ging. Ich hatte hundert
Jahre lang nicht geschlafen.
    Dunworthy saß hinter seinem Schreibtisch und blinzelte mich
an. Einer der Lakaien gab mir einen Testbogen, der andere sagte die
Zeit an. Als ich das Blatt umdrehte, hinterließ die Brandsalbe
einen Fettfleck. Verständnislos starrte ich auf meine
Hände. Als ich Langby auf die Seite rollte, hatte ich die
Brandbombe angefaßt, doch die Wundmale befanden sich auf den
Handrücken. Langby gab mir mit seiner barschen Stimme die
Antwort. »Du hast dich an dem Tau verbrannt, du Trottel. Bringt
man euch Nazi-Spitzeln eigentlich nicht bei, wie man richtig an einem
Seil hochklettert?«
    Ich widmete mich wieder dem Testbogen. Ich las: ›Anzahl der
Brandbomben, die auf St. Paul fielen. Anzahl der Fallschirmminen.
Anzahl der hochexplosiven Sprengbomben. Gängigste Methode zum
Unschädlichmachen von Brandbomben. Fallschirmminen.
Sprengbomben. Anzahl der Freiwilligen bei der ersten Wache. Zweiten
Wache. Verletzte. Tote.‹ Die Fragen ergaben keinen Sinn. Nach
jeder Frage war nur ein bißchen Raum freigelassen, so knapp,
daß höchstens eine Zahl hineinpaßte. Gängigste
Methode zum Unschädlichmachen von Brandbomben. Wie sollte ich
alles, was ich wußte, auf diesem winzigen Platz unterbringen?
Ich vermißte die Fragen nach Enola, nach Langby, nach dem
Kater.
    Ich trat zu Dunworthy. »Gestern nacht wäre St. Paul
beinahe abgebrannt«, sagte ich. »Was sind das für
Fragen?«
    »Sie sind hier, um Fragen zu beantworten, Mr. Bartholomew,
nicht, um welche zu stellen.«
    »Es gibt keine Fragen über die Menschen«, erwiderte
ich. Die äußere Umhüllung meiner Wut begann zu
schmelzen.
    »O doch«, betonte Dunworthy und schlug das zweite Blatt
des Testbogens auf. »Anzahl der Todesopfer 1940. Druckwelle,
Schrapnellgeschosse, andere Ursachen.«
    »Andere Ursachen?« wiederholte ich. Jeden Moment konnte
das Dach in einem Hagelschauer aus Verputz, Staub und Wut auf mich
herabstürzen. »Andere Ursachen? Langby erstickte einen
Brand mit seinem eigenen Körper. Enola leidet an einer
Erkältung, die immer schlimmer wird. Der Kater…« Ich
entriß ihm den Testbogen und kritzelte ›ein Kater‹ in
den engen Freiraum neben ›Druckwelle‹. »Sind Ihnen die
Menschen denn gleichgültig?«
    »Vom Standpunkt des Statistikers aus gesehen sind sie
wichtig«, antwortete er, »aber als Individuen spielen sie
für den Verlauf der Geschichte kaum eine Rolle.«
    Ich hatte kaum noch Reflexe. Mich wunderte nur, daß
Dunworthy so langsam reagierte. Meine Frau streifte seine Kinnlade,
und er verlor die Brille. »Natürlich spielen sie eine
Rolle!« schrie ich. »Sie machen die Geschichte aus, nicht
diese verdammten Zahlen!«
    Mit den Reflexen der Lakaien

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