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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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sagte er und sah den jungen Mann an.
»Ich habe Literatur über Orang-Utans gelesen, aber es sind
noch Fragen offengeblieben. Ich würde es zu schätzen
wissen, wenn Sie mir einen Teil Ihrer Zeit widmen
könnten.«
    Der junge Mann schaute auf seine Uhr. Natalie sah nicht sehr
glücklich aus. »Vielleicht nach dem Reporterempfang. Er
dauert bis…« Er wandte sich Natalie zu. »War es
sechzehn Uhr, Reverend Abreu?«
    Sie bemühte sich um ein Lächeln. »Ja, bis vier Uhr.
Wir sollten aufbrechen. Reverend Hoyt, wenn Sie gerne teilnehmen
möchten…«
    »Ich glaube, die Bischöfin wollte später am
Nachmittag kommen; vielen Dank.« Der junge Mann ergriff Natalies
Arm. »Nach der Pressekonferenz«, fuhr Reverend Hoyt fort.
»Sagen Sie Esau bitte, daß er die Leiter fortbringen soll.
Sagen Sie ihm, daß er sie nicht benötigt.«
    »Aber…«
    »Ich danke Ihnen, Reverend Abreu.«
    Natalie und ihr junger Mann gingen zu ihrer Pressekonferenz.
    Reverend Hoyt klappte sämtliche Bücher zu, die er von
der Bücherei mitgebracht hatte, und stapelte sie auf einer Ecke
des Schreibtisches. Dann stützte er den Kopf in die Hände
und versuchte, nachzudenken.
    »Wo ist Esau?« erkundigte sich die Bischöfin, als
sie hereinkam.
    »In der Kirche, nehme ich an. Er soll auch von innen einen
Fensterschutz anbringen.«
    »Ich habe ihn nicht gesehen.«
    »Vielleicht hat ihn Natalie mit auf den Reporterempfang
genommen.«
    Sie setzte sich. »Wie haben Sie sich entschieden?«
    »Ich weiß noch nicht. Gestern habe ich es noch
geschafft, mich selbst davon zu überzeugen, daß er ein
niederes Tier ist. Heute morgen um drei Uhr erwachte ich aus einem
Traum, in dem er heiliggesprochen wurde. Ich bin ebensoweit wie zuvor
davon entfernt, zu wissen, was ich tun soll.«
    »Mein Erzbischof, der seine Erziehung als Baptist nicht
vergessen kann, würde Sie fragen, ob Sie sich schon einmal
überlegt haben, was unser lieber Herr Jesus an Ihrer Stelle tun
würde?«
    »Sie meinen, ›Wer ist mein Nachbar? Und Jesus antwortete
und sprach: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho und fiel unter
die Diebe.‹ Esau hat das gesagt, müssen Sie wissen. Als ich
ihn fragte, ob er wüßte, daß Gott ihn liebt, hat er
das Wort ›Samariter‹ buchstabiert.«
    »Ich frage mich«, erwiderte Moira gedankenvoll, »ob
er den guten Samariter meinte, oder…«
    »Das Seltsame ist, daß ihm Natalie offenbar eine Art
Kurzschrift-Zeichen für ›guter Samariter‹ beigebracht
hat, das er aber nicht benutzen wollte. Er buchstabierte das ganze
Wort durch; Buchstabe für Buchstabe.«
    »›Wie kannst du als Jude mich nach einem Trank fragen,
da ich eine Frau aus Samaria bin?‹«
    »Was?«
    »Johannes Vier. Die Samariterin sagte diese Worte am Brunnen
zu Jesus.«
    »Sie kennen den Test, den man mit einem der ersten Affen
angestellt hat, der von menschlichen Zieheltern großgezogen
wurde. Sie – es handelte sich um eine Äffin –
mußte sich durch einen Stapel Fotos arbeiten und die Menschen
von den Affen trennen. Sie bestand den Test mit Bravour und machte
nur einen einzigen Fehler: sie legte ihr eigenes Bild immer auf den
Stapel mit menschlichen Konterfeis.« Er stand auf und ging bis
an die Tür. »Ich habe lange überlegt, ob Esau nicht
vielleicht getauft werden möchte, weil er nicht weiß,
daß er kein Mensch ist. Aber er weiß es. Er weiß
es.«
    »Ja«, erwiderte die Bischöfin. »Ich glaube
auch, daß er es weiß.«
    Sie gingen gemeinsam bis zur Kirche. »Ich habe heute nicht
gewagt, mit dem Rad zu kommen«, sagte sie. »Die Reporter
hätten es wiedererkannt. Was ist das für ein
Lärm?«
    Jetzt vernahm er ebenfalls ein merkwürdiges Geräusch;
eine Art heftiges Keuchen. Esau saß neben einer Kirchenbank auf
dem Boden; Oberkörper und Kopf an die Bank gelehnt. Er gab das
Geräusch von sich.
    »Will«, sagte Moira. »Die Leiter ist umgefallen.
Ich glaube, er ist gestürzt.«
    Er wirbelte herum. Die Leiter lag der Länge nach im
Mittelgang. Das Plastikgewebe war wie ein Fischernetz über die
vorderen Bänke gebreitet.
    Reverend Hoyt kniete neben Esau nieder und fragte, ohne an die
Zeichensprache zu denken: »Bist du verletzt?«
    Esau sah ihn an. Seine Augen waren verschleiert. Blut und Speichel
waren unter seiner Nase und dem Kinn. »Holen Sie Natalie«,
sagte Reverend Hoyt.
    Natalie erschien in der Tür; sie sah wie ein kindhafter Engel
aus. Der junge Mann aus Cheyenne Mountain war bei ihr. Ihr Gesicht
wurde so weiß wie ihr Chorhemd. »Holen Sie den Arzt«,
sagte sie mit

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