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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Kopf gesetzt hat?«
    Reverend Hoyt schüttelte den Kopf. »Sie ist ganz
besessen von Esau.«
    »Also stopft sie ihn mit einem Haufen Bibelgeschichten und
Schriftstellen voll. Hat sie ihn in die Sonntagsschule
mitgenommen?«
    »Ja. In die erste Klasse, nehme ich an.«
    »Nun, dann können Sie Indoktrinierung geltend machen,
oder? Sagen Sie einfach, es sei nicht seine eigene Idee gewesen,
sondern sie sei ihm aufgezwungen worden.«
    »Das läßt sich über Dreiviertel der
Sonntagsschulklasse sagen. Moira, genau hier liegt das Problem. Es
gibt kein Argument, das sich auf ihn anwenden ließe und nicht
ebenso auf die Hälfte der menschlichen Gemeinde zuträfe. Er
ist einsam. Er braucht eine starke Vatergestalt. Er mag die
hübschen Talare und Lichter. Instinkt. Konditionierung. Sexuelle
Sublimierung. Vielleicht passen diese Begriffe im Falle Esaus, aber
sie passen auch auf viele Menschen, die ich getauft habe. Und sie
habe ich nie gefragt: ›Was ist der wahre Grund dafür,
daß sie getauft werden möchten?‹«
    »Er tut es Natalie zu Gefallen.«
    »Natürlich. Und wie viele Hilfspastore gehen ihren
Eltern zuliebe aufs Seminar?« Er wanderte auf dem engen Raum
hinter seinem Schreibtisch auf und ab. »Ich nehme an, das
Kirchenrecht erwähnt keine derartigen Bedenken?«
    »Ich habe nachgeschlagen. Die ökumenische Kirche steckt
noch in den Windeln, Will. Wir haben kaum die Statuten
niedergeschrieben, geschweige denn die Details. Und zwanzig Jahre
reichen nicht aus, sich eine Basis von Präzedenzfällen zu
schaffen. Tut mir leid, Will. Ich habe sogar auf das Gesetz vor der
Vereinigung zurückgegriffen, weil ich hoffte, dort einen
passenden Paragraphen zu finden. Aber ich hatte keinen
Erfolg.«
    Die liberalen Kirchen hatten seit über fünfundzwanzig
Jahren mit der Idee der Vereinigung geliebäugelt, ohne sich
über mehr einigen zu können als das Vorhandensein des guten
Willens. Dann hatten die Charismatiker die Große
Verzückung verkündet; die Kirchen waren verschreckt auf
Tauchstation gegangen und hatten sich prompt hilflos in den Fangarmen
des Ökumenismus wiedergefunden.
    Die fundamentalistische Charismatische Bewegung hatte in den
Achtziger Jahren kontinuierlich an Macht zugenommen. Ihre
Anhänger bekannten sich zum bevorstehenden Ende der Welt mitsamt
seinen Verfolgungen und dem Erscheinen des Antichrist. An einem
schwülen Dienstag des Jahres Neunzehnhundertneunundachtzig
verkündeten sie plötzlich, das Ende der Welt sei nicht nur
in Sicht, sondern bereits im Gange; und alle wahren Christen
müßten sich zusammentun, um die Schlacht gegen das Wilde
Tier zu schlagen. Das Wilde Tier wurde niemals namentlich bezeichnet,
aber die meisten der wahren Christen vermuteten, daß es
irgendwo im Umkreis der liberalen Kirchen residierte.
Leidenschaftliche Predigten fanden in den vorderen Reihen der
Methodisten statt. Junge Männer hielten in den Mittelgängen
der Episkopalischen Kirchen während der Messen eifernde Reden.
Eine große Anzahl bunte Glasfenster – darunter alle
außer einem der Lazettis – gingen zu Bruch. Einige Kirchen
brannten ab.
    Die Große Verzückung verlor beachtlich an
Glaubwürdigkeit, als sich der Himmel zwei Jahre später noch
immer nicht wie eine Schriftrolle aufgerollt und die Gläubigen
aufgenommen hatte; aber die Charies stellten nach wie vor eine Macht
dar, die sich den Versuchen der ökumenischen Kirche, sie zu
vereinnahmen, widersetzte. Diese Kirche war eine ziemlich bunte
Mischung aus verschiedenen Glaubensrichtungen, das konnte man nicht
anders sagen; aber sie stemmte sich wie ein Bollwerk gegen die
Charies.
    »Sie haben nichts gefunden?« fragte Reverend Hoyt.
»Aber die Bischöfe könnten doch wenigstens Regeln
aufstellen.«
    »Wir Bischöfe besitzen keine Autorität in diesen
Dingen. Die Vereinigte Kirche Christi ist in Sachen Selbstbestimmung
eine Verfechterin der individuellen Freiheit geblieben, die sich auch
auf die Auswahl der Beamten, die Austeilung der heiligen Kommunion
und die Taufe erstreckt. Es stellte die einzige Möglichkeit dar,
sie hineinzubekommen«, schloß sie rätselhaft.
    »Ich habe das nie verstehen können. Sie hatten doch alle
am eigenen Leib erlebt, wie die Charismatiker wie Wölfe
über sie hereinbrachen. Sie hatte keine Wahl. Sie mußten
einfach eintreten. Wie kamen sie auf die Idee der
Selbstbestimmung?«
    »Es funktionierte in beide Richtungen; erinnern Sie sich. Wir
konnten schlecht untätig daneben stehen und zusehen, wie die
Charies sie vereinnahmten.

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