Brandzeichen
Kellnerin füllte Kaffee nach. Als Juliet einen Schluck nahm, rutschte der Ärmel ihres Pullovers ein Stück nach oben. Für einen kurzen Augenblick konnte Diane einige Narben auf ihrem Arm erkennen. Sie fragte sich, ob Juliet eine »Ritzerin« war und sich diese Verletzungen selbst beigebracht hatte.
Als beide ihren Nachtisch aufgegessen hatten, holte Diane eine Visitenkarte aus der Tasche.
»Ich möchte mich auf keinen Fall in Ihre Angelegenheiten einmischen, und ich werde auch nie mehr darauf zurückkommen. Ich habe eine Freundin. Ihr Name ist Laura Hillard, und sie ist Psychiaterin. Wenn Sie einmal mit ihr sprechen möchten, und sei es nur, um Strategien zu entwickeln, wie man mit Leuten wie Whitney Lester zurechtkommt, rufen Sie sie einfach an. Sie wird mir das nicht mitteilen, und ich werde Sie auch nicht fragen, ob Sie sie angerufen haben. Das Ganze ist nur eine unverbindliche Information.« Sie legte die Karte auf den Tisch und schob sie ein Stück nach vorne.
Juliet hob sie auf und betrachtete sie lange, bevor sie zu sprechen begann.
»In letzter Zeit habe ich wieder diese Träume«, sagte sie und starrte die Karte weiterhin unverwandt an. »Sie hatten ein paar Jahre aufgehört, aber jetzt haben sie wieder angefangen. Deswegen habe ich das mit Mrs. Lester heute auch nicht gepackt.« Sie schaute Diane ins Gesicht. »Ich kann mich kaum an meine frühe Kindheit erinnern. Ich weiß nur, was man mir später erzählt hat und was ich in den Zeitungen gelesen habe. Ich wurde entführt, als ich sieben Jahre alt war, und dann in einem Entwässerungskanal für tot zurückgelassen. Ich nehme an, von daher kommen alle meine Probleme, selbst wenn ich mich an nichts mehr erinnern kann.« Sie steckte die Karte in ihre Tasche.
Diane war wie vor den Kopf gestoßen. Erst nach einiger Zeit fand sie ihre Sprache wieder: »Juliet, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Hat man Ihren Entführer jemals gefasst?«
Juliet schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Sie haben erst im College einen Psychiater aufgesucht? Nicht früher?«
»Ich erinnerte mich ja an nichts, und deshalb wollten auch meine Eltern nicht mehr daran rühren. Sie hielten es für das Beste, wenn diese Erfahrung für immer begraben bliebe. Meine Mutter starb ein Jahr später, und mein Vater heiratete dann zum zweiten Mal. Mein Vater und meine Großmutter erzählten mir, meine Alpträume stammten von meinen Schuldgefühlen, dass ich ungehorsam gewesen sei und mich hätte ›schnappen lassen‹, wie es meine Großmutter ausdrückte. Sie sagte mir, die Alpträume würden aufhören, wenn ich von jetzt an brav wäre. Meine Stiefmutter glaubte, es würde mir helfen, wenn sie mich ins Sommerlager schickte. Das war zwar eine weit weniger rabiate Heilmethode, aber zum glücklichen Camper bin ich nie geworden.«
Kein Wunder, dass sie so schüchtern war und die Einsamkeit vorzog,
dachte Diane.
Mir würde es genauso gehen, wenn ich so etwas als Kind hätte durchmachen müssen.
In Anbetracht dessen war Whitney Lesters Betragen umso unverzeihlicher.
»Das tut mir leid«, sagte Diane. »Das Leben muss sehr schwierig für Sie sein. Wenn ich irgendwie helfen kann, werde ich das gerne tun.«
»Sie haben mir ja einen Job gegeben. Was glauben Sie, wie oft ich nach einem Vorstellungsgespräch eine Absage bekommen habe? Deswegen ist dieser Job auch so wichtig für mich. Ich würde ihn nie durch einen Diebstahl aufs Spiel setzen. Ich habe noch nie etwas gestohlen. Ich bin kein Dieb.«
Diane war froh, dass sie zusammen gegessen hatten. Jetzt verstand sie Juliet viel besser. Sie bot ihr an, sie nach Hause zu fahren, aber Juliet zog es vor, ihr eigenes Auto zu benutzen, das auf dem Museumsparkplatz stand. Diane ließ das Trinkgeld auf dem Tisch liegen, und die beiden machten sich auf den Weg nach draußen. Die Geschäftsführerin des Restaurants nickte Diane zu, als sie an ihr vorbeigingen. Sie schickte die Rechnung immer in Dianes Büro. Auf diese Weise musste sich Diane nie mit den wenigen Gästen auseinandersetzen, die unbedingt ihre eigene Zeche zahlen wollten. Das Problem erledigte sich ja von selbst, wenn niemand ihnen eine Rechnung vorlegte.
Das Restaurant machte bald zu, so dass nur noch wenige Autos auf dem Parkplatz standen. Diane bemerkte, dass eine der Laternen ausgegangen war, und zwar ausgerechnet diejenige, die neben ihrem Wagen stand. Sie blieb sofort stehen. Juliet spürte wohl Dianes Unruhe und hielt ebenfalls an. Diane griff sie an den Arm.
»Ich glaube, wir gehen
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