Brandzeichen
ins Unendliche zu ziehen. Als der Mond unterging, fuhren sie weite Strecken in völliger Dunkelheit, ehe sie gelegentlich an einer Farm oder an ein paar Geschäften an der Straße ein Licht entdeckten. Das gelbäugige Ding hatte Einstein von den Santa-Ana-Ausläufern in Orange County bis Santa Barbara verfolgt - eine Strecke von mehr als hundertachtzig Kilometern Luftlinie, hatte Travis gesagt, und wahrscheinlich beinahe achthundert Kilometer zu Fuß in der Wildnis -, und das in drei Monaten. Nicht besonders schnell. Wenn sie daher von Santa Barbara siebenhundert Kilometer nach Norden fuhren, ehe sie sich ein Versteck irgendwo in der Umgebung von San Francisco suchten, würde der Verfolger sie vielleicht erst in sieben oder acht Monaten erreichen. Vielleicht sogar nie. Über eine wie große Distanz konnte er Einstein ausschnüffeln? Ohne Zweifel gab es auch für seine unheimliche Fähigkeit, den Hund aufzuspüren, Grenzen. Sicherlich gab es die.
Am Donnerstagmorgen um elf uhr stand Lemuel Johnson im Schlafzimmer des kleinen Hauses, das Travis Cornell in Santa Barbara gemietet hatte. Der Ankleidespiegel war zerschlagen worden. Auch der Rest des Zimmers war demoliert, als hätte den Outsider eifersüchtige Wut erfaßt, als er sah, daß der Hund in häuslicher Behaglichkeit lebte, während er gezwungen war, durch die Wildnis zu ziehen und in vergleichsweise primitiven Umständen zu leben.
In dem Unrat, der den Boden bedeckte, fand Lem vier silbergerahmte Fotografien, die wahrscheinlich auf der Kommode oder den Nachttischen gestanden hatten. Das erste zeigte Cornell und eine attraktive Blondine. Lem hatte inzwischen bereits genug über Cornell in Erfahrung gebracht, um zu wissen, daß die Blondine seine verstorbene Frau Paula sein mußte. Ein anderes Foto, die Schwarzweißaufnahme eines Mannes und einer Frau, war so alt, daß Lem annahm, die in die Kamera lächelnden Leute seien Cornells Eltern. Das dritte, ebenfalls alt, ebenfalls in Schwarzweiß, zeigte einen etwa elf- oder zwölfjährigen Jungen; hierbei mochte es sich um eine Aufnahme von Travis Cornell selbst handeln wahrscheinlicher jedoch um die des Bruders, der in jungen Jahren gestorben war. Das letzte der vier Fotos zeigte zehn Soldaten, die sich um die Holztreppe vor einer Baracke gruppiert hatten und in die Kamera grinsten. Einer der zehn war Travis Cornell. Auf einigen der Uniformen bemerkte Lem das auffällige Abzeichen der Delta Force, des Elitekorps zur Terroristenbekämpfung. Dieses letzte Foto beunruhigte ihn. Lem stellte es auf die Kommode und ging ins Wohnzimmer zurück, wo Cliff noch immer in dem blutbesudelten Durcheinander jeden Fußbreit prüfte. Sie suchten nach etwas, das für die Polizei von keiner Bedeutung sein mochte, für sie aber äußerst wichtig sein könnte. Die NSA hatte spät von dem Mord in Santa Barbara erfahren, und Lem war erst kurz vor sechs Uhr morgens alarmiert worden. Demzufolge hatte die Presse bereits über die grausigen Einzelheiten der Ermordung Ted Hockneys berichtet. Die Zeitungen ergingen sich voll Enthusiasmus in wilden Spekulationen darüber, was wohl Hockney getötet haben könnte, wobei sie sich in erster Linie auf die Theorie konzentrierten, Cornell habe irgendein exotisches, gefährliches Haustier gehalten, vielleicht einen Geparden oder einen Panther, und das Tier habe den nichtsahnenden Vermieter angegriffen, als dieser das Haus betrat. Die Fernsehkameras hatten sich liebevoll mit den zerfetzten und blutbesudelten Büchern befaßt. Das war Stoff, wie der »National Enquirer< ihn seinen Lesern servierte, was Lem nicht überraschte, weil er die Meinung vertrat, daß der Unterschied zwischen Sensationsblättern wie dem >Enquirer< und den sogenannten >anerkannten< Medien - besonders den elektronischen - oft kleiner war, als das die meisten Journalisten sich eingestehen wollten. Lem hatte bereits eine Desinformationskampagne geplant und in Gang gesetzt, um die in die Irre gehende Hysterie der Presse über in Freiheit befindliche Dschungelkatzen zu nähren. Von der NSA bezahlte Informanten würden auftreten, behaupten, Travis zu kennen, und sich dafür verbürgen, daß er tatsächlich außer einem Hund auch einen Panther im Hause gehalten habe. Andere, die Cornell nie begegnet waren, würden sich als seine Freunde zu erkennen geben und besorgt melden, sie hätten ihn immer wieder gedrängt, dem Panther bei Erreichen der Reife Zähne und Klauen abfeilen zu lassen. Die Polizei würde daraufhin Cornell und die
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