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Brandzeichen

Brandzeichen

Titel: Brandzeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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erschütternd naiv bezüglich der Welt und ihrem Getriebe, so wenig vertraut, mit Leuten umzugehen, daß sie nur funktionierte, wenn sie sich auf das Haus beschränkte, auf eine in sich abgeschlossene Welt ohne menschliche Kontakte. Sie wußte nichts über gesellschaftlichen Umgang. Sie war nicht einmal imstande gewesen, mit Garrison Dilworth, Tante Violets Anwalt - jetzt Noras Anwalt -, ein höfliches Gespräch zu führen. Sie waren zusammengekommen, um den Nachlaß zu regeln, und sie hatte seine Fragen so bündig wie möglich beantwortet, war in seiner Gegenwart mit gesenktem Blick, die Hände im Schoß verkrampft, dagesessen, schüchtern wie nur. Angst vor dem eigenen Anwalt! Wenn sie mit einem freundlichen Mann wie Garrison Dilworth nicht umgehen konnte, wie sollte sie je mit einem Tier wie Art Streck zu Rande kommen? In Zukunft würde sie es nicht mehr wagen, jemanden für eine Reparatur ins Haus zu lassen, ganz gleich, was kaputtging, und einfach in immer schlimmer werdendem Zerfall leben müssen. Denn der nächste Mann konnte wieder ein Streck sein - oder noch schlimmer. In Beibehaltung der Tradition, die ihre Tante eingeführt hatte, ließ sich Nora bereits die Lebensmittel vom nahen Supermarkt liefern, um nicht zum Einkaufen aus dem Haus gehen zu müssen. Jetzt aber würde sie sogar Angst davor haben, den Jungen, der die Sachen brachte, ins Haus zu lassen; er war nie auch nur im geringsten Maße zudringlich, anzüglich oder in irgendeiner Weise beleidigend gewesen. Aber eines Tages würde er vielleicht ihre Verwundbarkeit erkennen, wie Streck ... Sie haßte Tante Violet. Andererseits hatte Violet recht gehabt: Nora war eine Maus. Und wie allen Mäusen war ihr bestimmt, zu rennen, sich zu verstecken, im Dunkeln zu kauern. Ihre Wut ließ nach, wie vorhin der stechende Schmerz. Das Gefühl der Verlassenheit trat an die Stelle des Zorns, und sie weinte leise. Später saß sie an das Kopfteil gelehnt da, tupfte sich die geröteten Augen mit Kleenex, schneuzte sich und gelobte tapfer, nicht zur Einsiedlerin zu werden. Irgendwie würde sie die Kraft und den Mut finden, sich mehr als in der Vergangenheit in die Welt hinauszuwagen. Sie würde Menschen kennenlernen. Sich mit den Nachbarn bekannt machen, die Violet mehr oder weniger geschnitten hatte. Sie würde Freunde gewinnen. Weiß Gott, das würde sie. Und sie würde sich von Streck nicht einschüchtern lassen. Sie würde lernen, auch andere Probleme zu meistern, und eines Tages würde sie eine ganz andere sein als die, die sie jetzt war. Dieses Versprechen legte sie ab. Ein heiliges Gelöbnis. Sie erwog, die Telefonschnur aus der Dose zu ziehen, um auf diese Weise Streck einen Strich durch die Rechnung zu machen, aber sie hatte Angst, sie könnte den Apparat brauchen. Was, wenn sie aufwachte, jemand im Haus hörte und das Telefon nicht schnell genug anstecken konnte? Bevor sie das Licht ausschaltete und die Decke hochzog, schloß sie die Schlafzimmertür und sicherte sie mit dem Lehnsessel, indem sie diesen schräg unter dem Türknopf verspreizte. Im Bett, im Dunkeln, tastete sie nach dem Fleischermesser, das sie auf den Nachttisch gelegt hatte, und war beruhigt, als ihre Hand es ohne langes Suchen fand. Nora lag auf dem Rücken, die Augen offen, hellwach. Fahles, bernsteinfarbenes Licht der Straßenlaternen fand seinen Weg durch die Fensterläden. Einander abwechselnde Streifen aus Schwarz und blassem Gold überzogen die Zimmerdecke, als spränge ein unendlich langer Tiger mit einem nicht endenden Satz über das Bett. Sie fragte sich, ob sie jemals wieder würde leicht einschlafen können. Außerdem fragte sie sich, ob sie draußen in jener größeren Welt, die zu betreten sie gelobt hatte, jemanden finden würde, dem sie etwas bedeutete, der sich um sie - und für sie sorgte. Gab es denn niemanden, der eine Maus lieben und hegen konnte?
    Aus weiter Ferme erklang das Pfeifen eines Zuges, ein einziger, hohler, klagender Ton.
    Noch nie war Vince Nasco so emsig gewesen. Und so glücklich.
    Als er die übliche Nummer in Los Angeles anrief, um seinen Erfolg im Haus der Yarbecks zu melden, verwies man ihn an eine andere öffentliche Telefonzelle. Diese stand zwischen einem Yoghurteis-Laden und einem Fischrestaurant auf Baiboa Island in Newport Harbor. Dort rief ihn die Kontaktperson mit der kehligen, sinnlichen Kleinmädchenstimme an. Sie sprach in Umschreibungen von Mord, gebrauchte nie belastende Worte, sondern exotische Euphemismen, die vor Gericht nicht von

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