Brann 01 - Seelentrinkerin
nahmen Lebenskraft aus ihr, bis sie zu guter Letzt wieder klar denken konnte, sich nicht mehr aufgedunsen und unbeholfen fühlte. Sie wandte sich um, betrachtete die Toten. In zwei Reihen lagen sie da, fünfzig Mann, Schlangen und dem zum Opfer gefallen, was sie jetzt war — was es auch sein mochte —, kaum einen Laut hatten sie ausgestoßen, jeder Widerstand war ausgeblieben, sie ruhten unter ihren Decken, als ob sie noch schlummerten. Stumm trat Brann zu Temueng-Pimush, dem Anführer der Eindringlinge, dem Mann, der zu allem, was von ihnen angerichtet worden war, die Befehle erteilt hatte; er schlief ruhig, ungestört durch Träume oder Reue. Du kennst den Grund, dachte Brann, aber wie soll ich dich befragen, welche Fragen soll ich dir stellen? Er schnaufte, bewegte die Hände. Brann sprang zurück in den Schatten, doch er erwachte nicht. Jaril zupfte sie am Ärmel. Brann beugte sich hinab. »Was?« fragte sie im Flüsterton.
»Entziehe ihm Lebenskraft, jedoch nur einen Teil, just genug, um ihn seines Willens zu entheben, so daß wir ihn aus ihrer Nähe fortbringen können.« Der Knabe nickte in die Richtung der im Schlaf befindlichen Gefangenen. Brann senkte den Blick und sah zu ihrer Überraschung, daß ihre Hände in der verwaschenen Trübnis kurz vor Anbruch der Morgendämmerung wie die runden Porzellanlampen leuchteten, die ihr Vater als Nachtlaternen hergestellt hatte. Sie kniete neben dem Pimush nieder, nahm seinen Kopf zwischen die Hände. Er wachte halb auf, döste jedoch wieder ein, als sie das zunächst langsame Absaugen seiner Lebenskraft ein wenig beschleunigte. »Genug«, sagte Jaril, faßte Branns Hand. Brann seufzte und kauerte sich auf die Fersen.
»Was nun?«
»Fort in den Wald! Er wird zu gehen vermögen, wenn wir etwas nachhelfen.«
Mit Unterstützung der Kinder führte Brann den Pimush ein Stück weit von der Lichtung mit dem Lager weg, lehnte ihn an die hoch gewölbten Wurzeln einer alten Eiche. »Das wäre geschafft. Und was jetzt?«
»Gib ihm Kraft zurück!«
»Hä?«
»Du willst doch, daß er zu reden imstande ist, oder? Leite das Fließen der Lebenskraft zurück in sein Inneres. Du brauchst ihn nur anzurühren und deinen Willen aufzubieten, Brombeer, es ist so leicht wie Atmen.«
»Ich glaube, ihr atmet gar nicht.«
Jaril grinste ihr zu. »Zumindest nicht in der Weise wie du.«
Brann kratzte sich mit einem schmutzigen Zeigefinger am Mundwinkel. Der Temueng war ein großer Mann, Kopf und Schultern ragten höher empor als bei den meisten Bewohnern Arth Slyas, das Fleisch umhüllte seine Knochen hart und fest. Ihr schauderte erneut. »Er sieht aus, als könnte er mich ohne weiteres entzweirupfen. Sollen wir ihn nicht fesseln?«
»Nein.« Jaril wechselte die Gestalt, kroch als Schlange, Windung um Windung, auf den Brustkorb des Temueng, richtete den breiten dreieckigen Schädel auf, schaukelte in dieser Haltung hin und her, die Giftzähne entblößt, zum Biß bereit. Yaril kniete an der rechten Seite des Temueng nieder, verlieh ihrem Gesicht die raubgierige Miene eines hungrigen Wiesels, die ihre zarten kindlichen Gesichtszüge so gut ergänzten, daß sie schauriger aussah, als hätte sie sich in einen dreimal so großen wutentbrannten Kerl verwandelt. Brann schaute von dem Kind zu der Schlange, strich sich mit der Hand übers Gesicht, wischte erneut ausgebrochenen Schweiß ab. »Weshalb fühle ich mich jetzt bloß nicht sicherer?« flüsterte sie, kicherte dann beunruhigt.
Morgendlicher Wind regte sich, rauschte im Laub, da und dort durchdrang das noch schläfrige Zwitschern eines Vogels die Stille. Yaril klackte mit den Zähnen. »Brann, wartest du auf Regen, oder was ist mit dir?«
Brann ließ sich neben dem Temueng auf die Knie sinken, legte ihm eine Hand auf die Stirn, stellte fest, daß Jaril recht hatte, es war ganz leicht; die Glut, die unter ihrer Haut lohte, sickerte durch die Fingerspitzen in den Mann. Sein erbleichtes Gesicht bekam wieder eine gesundere Färbung, wiedergekehrte Lebenskraft rötete es. Überhastet sprang Brann auf, tat ein paar Schritte rückwärts.
Der Temueng öffnete die Augen. Von neuem wich ihm die Farbe aus den Wangen, er wurde blaß, als er über sich das Schlangenhaupt sah; er erstarrte, unterließ sogar das Atmen.
»Mann«, sagte Yaril.
»Was?« Seine verkniffenen Augen ruckten umher, schweiften von der Natter, die sachte auf ihm schwankte - allerdings ohne die erhöhte Anspannung, die anzeigte, daß sie im nächsten Augenblick zubeißen
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