Brans Reise
Sommer und Wein. Er legte sich den Umhang über die Schulter und band ihn vor dem Hals zusammen. Dann sah er auf die Stelle am Boden, an der sie gelegen hatten. Sie hatten im Schutz der Säulen gelegen, und nachdem die Fackeln heruntergebrannt waren, hatte die Dunkelheit ihre Körper umschlossen. Da spürte er sie noch besser. Ihren Atem, die Wärme, wie sie sich bewegte; all das wurde so deutlich.
Er wandte sich von dem Ort ab. Schon war es eine schmerzende Erinnerung. Denn er musste sie jetzt verlassen, das wusste er. In der Waffenkammer hatte er einen Eid gesprochen und geschworen, für Visikal zu kämpfen. Er konnte diesen Schwur nicht brechen, nicht einmal, wenn er wollte. Dielan, Hagdar und die anderen erwarteten, dass er sie nach dem Krieg weiter anführte, und von hier aus gab es keinen anderen Weg als auf das Meer, hinaus in die Herbststürme. Bran trat zu dem steinernen Tisch vor. Er wollte zu dem Gott sprechen, zu dem sie gebetet hatte. Seine Arme streckten sich aus dem Halbdunkel vor, und als er den Altar erreichte, konnte er auch den Körper und den Kopf der Götterstatue mit dem Hirschgeweih erkennen.
»Wer bist du?« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn du wirklich ein Gott bist, dann gib dich zu erkennen, wie es Kragg nach der Lawine getan hat.«
Das Götterbild blieb stumm. Die Arme des Gottes streckten sich ihm noch immer entgegen. Bran blickte sie lange an, denn er verstand nicht, warum man das Standbild mit einer derartigen Armhaltung versehen hatte. Es sah aus, als ob der Riese einst etwas auf seinen steinernen Armen getragen hätte. Ein Schwert oder einen Speer, dachte Bran. Einen verwundeten Freund. Oder wartete er vielleicht auf etwas, das er tragen konnte, etwas, das ihm gegeben werden würde?
Bran ließ dieser Gedanke nicht los, als er auf die Tür zuging. Er ließ sich von den leeren Steinaugen in den Nacken starren und kniff die Augen zusammen, als er in das grelle Sonnenlicht vor der Tür trat.
Seit dem Sonnenaufgang hatte das Felsenvolk am Hafen gewartet. Ja, sie waren sogar noch vor den ersten Tirganern dagewesen, denn sie hatten Bran nicht mehr gesehen, seit er während des Festes aufgesprungen war, und machten sich Sorgen.
»Er hätte dieser Zauberin niemals nachsteigen dürfen«, sagte eine der älteren Frauen.
Nosser schüttelte den Kopf. »Er ist mehr Tirganer als jeder andere von uns. Die Frau, die er liebt, stammt aus Tirga, und jetzt soll er für dieses Volk in den Krieg ziehen.«
»Bran wird immer einer von unserem Volk sein«, sagte Dielan. Er wiegte Konvai in den Armen. »Habt ihr denn nichts verstanden? Dieser Krieg ist etwas, was Visikal von ihm fordert, damit er sie bekommen kann.«
Das Felsenvolk sah einander an und murmelte vor sich hin. Sie wussten genau, dass es so war, wie Dielan sagte, doch es tat gut, seinen Sorgen Luft zu machen, jetzt, da alle beieinander standen. Sie waren im Osten des Hafens, unmittelbar vor dem ersten Langschiff. Viele Tirganer standen im Hafen. Dielan, Hagdar und die anderen starrten mit aufgerissenen Augen die Männer in ihren Rüstungen an, die ihre langen Schwerter und ihre Seesäcke über der Schulter trugen, während sie im Hafen herumgingen. Immer mehr Menschen strömten aus den Gassen zum Hafen, Familien, die ihre Männer und Brüder begleiteten, um Abschied zu nehmen, wenn die Langschiffe die Leinen lösten. Das Felsenvolk wunderte sich darüber, dass nur so wenige von ihnen weinten, denn nach allem, was sie gehört hatten, konnte der Krieg den ganzen Winter andauern.
»Seht«, sagte Turvi. Er zeigte zum zwölften Langschiff hinten am Ende des Hafens hinüber. »Vare und Ylmer gehen an Land.«
Das Felsenvolk sah den zwei Skergen nach. Sie trugen rote Umhänge über den Schultern, und die Metallplatten, die in ihre Lederwesten eingelassen waren, spiegelten das kalte Sonnenlicht. Die Tirganer wichen ehrfürchtig vor ihnen zurück, als sie über den Hafen gingen. Kurz darauf bestieg Vare den Landgang eines der mittleren Schiffe, während Ylmer weiterging. Er ging bis zum Langschiff in der Nähe des Felsenvolkes hinüber. Am Landgang blieb er stehen, lächelte kurz zu ihnen hinüber und ging dann mit langen Schritten über die steile Planke an Bord.
»Er hat heute keine Zeit, mit uns zu sprechen«, schnaubte Velar. »Sie wollen in ihren Großen Krieg ziehen, und wir sind ja nur ein kleines, unwichtiges Volk.«
Turvi lehnte sich auf seine Krücke. Für ihn war es kein Geheimnis, wo ihr Häuptling die Nacht
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