Brans Reise
Sie schob sie nicht zur Seite. Sie stand einfach da, regungslos. Bran sprang vom Landgang hinunter. Er ging zu ihr hinüber, aber vorsichtig, als ob sie ein wildes Tier wäre, das er nicht verscheuchen wollte.
»Tir…« Er ließ seine Hand durch ihre Haare gleiten. Ihre Wangen waren jetzt kalt, und er schob ihre Locken zur Seite und wärmte sie mit den seinen. »Sag, dass du mein bist«, bat er. »Meine Frau.« Er schloss die Augen.
Jemand rief vom Schiff herunter. Der Landgang kratzte über die Steine.
Sie legte eine Hand in seinen Nacken. Sie küsste ihn, nicht auf den Mund, sondern auf die Augenlider. Ihre Lippen waren warm. Dann verschwand sie aus seinen Armen, und als er die Augen wieder öffnete, war sie bereits viel zu weit weg. Der Wind packte ihre Haare, und ihr Rücken sah so schmal und schwach aus, als sie sich unter Tirgas Frauen mischte.
Bran ging als Letzter der Krieger an Bord von Visikals Schiff. Er stellte sich hinter die Bronzeschilde, die die Reling schmückten, und sah ihr nach. Sie wartete nicht im Hafen, wie es die anderen Frauen taten. Mit den Augen folgte er ihrer schlanken Gestalt bis hinauf zum Turm. Dort drehte sie sich um, und obgleich sie zu weit entfernt war, als dass er ihre Augen hätte sehen können, wusste er, dass die Tränen, die er weinte, ihre Tränen waren.
Als das Langschiff ablegte, gingen Bran und Hagdar nach achtern. Dort standen sie gemeinsam mit einigen Tirganern, während sie die Ruder aufs offene Wasser schoben. Bran sah Dielan, Gwen, Turvi und all die anderen. Kuenn und Nemni waren jetzt nicht allein; sie standen mit zwei blonden Männern zusammen, den Tirganern, mit denen sie auf dem Fest getanzt hatten. Das Felsenvolk winkte seinem Häuptling zu, und er streckte ihnen die Hand entgegen und wünschte ihnen Frieden. Das Langschiff fuhr am letzten Anleger vorbei, und Bran sah auf die kleinen Boote hinab, mit denen sein Volk über das Meer gesegelt war. Es schien ihm so lange her zu sein. Dann fuhr das Schiff an dem hintersten Zweimaster vorbei und glitt durch die Öffnung der Mole. Die Wellen warfen sich gegen den Bug, und der Wind schlug ihm ins Gesicht.
Bran und Hagdar nutzten den ersten Tag, um sich mit dem Schiff vertraut zu machen, denn das ließ sie an etwas anderes denken als an die Menschen, die sie in Tirga zurückgelassen hatten. Sie befühlten die Taue, die vom Mast herabhingen und die so dick und glatt in der Hand lagen. Es seien Taue mit Pferdehaaren, meinte Hagdar. Einige der Taue waren mit Holzkeilen am Deck des Schiffes befestigt. Sie hielten den Mast, der sich über sie erhob wie ein Baum ohne Zweige. Hoch dort oben hing der breite Querbaum, um den das Seil gewickelt war. Wenn der Wind drehte, wollten die Tirganer das Seil fallen lassen und die Ruder einziehen, wie es auch Bran und Hagdar in ihren Booten getan hatten.
Visikal war nicht zu sehen. Abgesehen von drei Tirganern, die mit dem Steuermann sprachen, waren Bran und Hagdar allein. Bereits kurz nachdem sie ausgelaufen waren, waren die Männer durch eine Luke im Mittelschiff nach unten verschwunden. Seitdem hielten sie sich dort auf.
»Wir gehen nach unten.« Hagdar öffnete die Luke. »Vielleicht brauchen sie Unterstützung an den Rudern.«
Bran folgte ihm die Holzleiter hinunter. Er schloss die Luke hinter sich, stieg die letzten Stufen im Dunkel hinunter und trat auf einen Berg Sand. Das überraschte ihn, denn er hatte Holzplanken unter den Stiefeln erwartet, wie oben auf dem Deck. Er rieb sich die Augen und versuchte sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Um ihn herum schwirrten die Stimmen. Ruder knirschten und Kleider und Felle raschelten. Und hinter all den Geräuschen war ein rhythmisches Summen zu hören.
»Hier ist es aber eng«, sagte Hagdar.
Bran erblickte einen Mann, der an einem Ruder saß, eine Kerze und einen anderen Mann, der versuchte, einen Sack an den Deckenbalken zu binden. Sein Sehvermögen kam jetzt zurück, und er erkannte, dass Hagdar Recht hatte. Um ihn herum wimmelte es von Kriegern. Einige saßen, andere lagen zusammengerollt zwischen Umhängen und Pelzen. Und auf beiden Seiten des Schiffes saßen Männer und ruderten. Sie stemmten sich mit den Füßen gegen kleine Leisten, die am Boden festgenagelt waren, und lehnten sich mit dem Ruder nach hinten, bevor sie es in ihren Schoß hinunterdrückten und sich für den nächsten Zug nach vorne beugten. Diese Männer waren es, die summten, und er verstand, dass sie das taten, um den Rhythmus zu halten. Wo sie
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