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Brans Reise

Titel: Brans Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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auf den steinernen Block hinunter, und Bran spürte, wie der Wundschmerz und die Angst in ihn eindrangen. Er lag mit dem Rücken auf der kalten Steinplatte, spürte seine Hand in der ihren und schlief wieder ein.
     
    Tir stand lange vor der Steinplatte. Sie hatte ihre Hand um seine Faust gelegt, spürte den Strom seines Blutes unter der Haut und lauschte seinem schwachen Atem. Sie war jetzt die Einzige im Turm. Sie wartete auf Cernunnos Stimme und dessen Urteil über den Sterbenden. Denn Brans Lebenskraft war beinahe erloschen.
    Tir schloss die Augen und vertiefte sich in sich selbst. Cernunnos sprach mit Erinnerungen und Bildern, nicht mit Worten. Er konnte den Sterbenden zu sich nehmen oder ein Opfer verlangen. Das Leben eines Menschen war es, was Er verlangte. Einen Vater, einen Bruder, ja sogar Unbekannte konnte Er sich im Tausch gegen den Sterbenden erwählen. Der Geweihtragende tat das nicht aus Bosheit, sondern aus Liebe. Denn nicht einmal Er wusste über das Reich des Todes zu siegen. Er lebte selbst dort, auf der anderen Seite der Ebene.
    »Sprich zu mir.« Sie legte ihre Arme auf Brans Brust. »Ich bitte um das Leben dieses Mannes.«
    Doch Cernunnos blieb still. Sie spürte seine Nähe um den steinernen Tisch und seinen Atem im Dunkel zwischen den Säulen. Sie sah Bran an, und Bran erwiderte ihren Blick.
    Da ging ein Zittern durch Brans Körper. Er umklammerte ihre Finger, stöhnte und rang nach Atem. Wie ein Mann mit Krämpfen verharrte er, legte sich auf die Seite und trat mit den Beinen. Sie hielt ihn aus Angst, er könne vom Altar fallen, fest, doch da wälzte er sich wieder auf den Rücken. Sie tastete nach seinem Handgelenk. Jetzt war sein Puls stark und gleichmäßig und seine Brust hob und senkte sich bei jedem seiner kräftigen Atemzüge.
     
    Visikal war ein reicher Mann. Er war so reich, dass einige Bürger von Tirga glaubten, er habe Kriegsbeute für sich behalten. Und wenn die Gerüchte stimmten, hatte er sich eines schweren Vergehens schuldig gemacht, denn alle Kriegsbeute musste in den Türmen aufbewahrt werden, falls die Kornernte ausblieb und sie nach Norden segeln mussten, um zu handeln. Doch niemand wagte es, diese Gerüchte laut auszusprechen, denn Visikal war darüber hinaus ein mächtiger Mann. Er war derjenige der Skerge, der im Krieg die Bronzeaxt trug und Cernunnos nach den Galuenen am nächsten war.
    Gemeinsam mit seinen drei Frauen wohnte er in einer Festung ganz oben am Hang, und vom Turm, in dem sich sein Schlafzimmer befand, konnte er durch die vier Fenster nach Norden, Westen, Süden und Osten blicken. Er konnte auf die Krieger herabblicken, die auf dem Hofplatz exerzierten, während er das Essen aß, das ihm seine Frauen brachten. Vare und Ylmer waren nicht die Einzigen, die ihre Köpfe über ihn schüttelten, denn Visikal war einer der ganz wenigen Tirganer, die noch immer an den alten Bräuchen, der Vielweiberei und dem Sprechen mit dem Wind, festhielten.
    Ylmer und Vare waren an diesem Nachmittag am Hafen gewesen und hatten gesehen, wie die Bürger den Regen feierten. Die Fischer waren mit Schwertfischen in den Hafen gekommen, und der Hafenmeister hatte Kohle unter den Rosten entzündet, auf denen die Kaufleute Muscheln und Tintenfische grillten. Als Zeichen des guten Willens hatte Vare das fremde Volk gebeten, mit ihnen zu essen. Das weckte bei den Fremden große Freude, und gemeinsam hatten sie die dampfenden Fischstücke gegessen, bis sie alle mehr als satt waren. Ylmer und Vare spannten die Bäuche, als sie durch die regennassen Gassen zu Visikals Festung emporstiegen. Sie umrundeten den Fünften Turm, der schwarz wie die Abendschatten um sie herum war, und stiegen die Treppen empor, die zum Garten führten. Dort folgten sie dem Pfad, der unter den tropfenden Bäumen hindurch, vorbei an der alten Bank und den Weinranken, auf den Hofplatz führte. Der längliche Platz war von geflochtenen Zäunen gesäumt, an denen die Trauben blau und überreif herabhingen. An seinem Ende erhob sich die Mauer, die Visikals Festung umgab, und dort lag auch der überdachte Eingang, neben dem die Schilde der Wachen im Licht der Fackeln blitzten. Die zwei Männer schlugen ihre Umhänge zurück und grüßten, schritten über den Platz und gingen auf den Eingang zu. Die Wachen legten ihren Schwertarm vor die Brust, als sie vorbeigingen, und zeigten so ihre Ehrerbietung vor den Skergen. Ylmer und Vare traten durch die geöffnete Tür, warfen ihre Umhänge über die Truhe, die dort stand, und

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