Brans Reise
Kopf bis Fuß abgetastet. Wach auf!«
Sie lehnte sich zurück. Seit sie gemeinsam mit den anderen Galuenen Cernunnos herbeigerufen hatte, um den Kranken zu sehen, war sie an seiner Seite geblieben. Nur zweimal hatte sie den Turm verlassen. Einmal, um Visikal zu besuchen und ihm zu berichten, was mit Fa Ton geschehen war, und das andere Mal, um Essen und noch mehr Salbe zu holen. Sie legte ihre Hand auf seine Brust und spürte die Herzschläge. Sie waren stark. Dann fuhr sie mit der Hand über seinen Hals und vergrub die Finger in seinem dunklen Bart. Sie fragte sich, wie er wohl ausgesehen hatte, bevor er diese lange Narbe über Nacken und Ohr bekommen hatte und ehe Haare und Bart so lang gewachsen waren. Solche Gedanken hatte sie oft, wenn sie Männer pflegte, die bei Seegefechten mit Vandaren oder Krettern verunstaltet worden waren. In den Liedern hieß es, Schönheit könne sich vor dem Auge verbergen, niemals aber vor dem Herzen. Dennoch hatte sie Gesichter gesehen, die sich in all ihrer blutigen Hässlichkeit nach dem Tod sehnten. Sie hatte sich von ihnen abgewandt und Cernunnos gebeten, sich ihrer anzunehmen, und oft hatte er das dann getan. Doch mit diesem Mann verhielt es sich anders. Sie wusste nicht, wie oft sie ihm über sein zerfetztes Ohr gestreichelt hatte. Sie war mit dem Finger über die glatte Narbe gefahren, die sich über seinen Nacken zog und auf der die Haut so weiß war, einzig unterbrochen von vereinzelten, winzig kleinen Äderchen. Auf dieser Seite des Gesichts war das Auge immer ein wenig mehr geschlossen, ja sogar die Falten im Augenwinkel waren auf dieser Seite tiefer. Wenn er dalag und den Kopf zur Seite geneigt hatte, erkannte sie, dass vereinzelte Zuckungen über seine Schläfe huschten, und sie begriff, dass ihn diese alte Verletzung noch immer quälte.
Die andere Seite seines Gesichts war erschöpft, müde und voller Frieden. Von dieser Seite ähnelte sein Gesicht nicht dem des Fremden, der in den Saal auf der Insel getreten war. Er sah nicht wie der betrunkene Mann aus, der mit den Händen in ihre Haare gegriffen und sie mit weintriefenden Fingern angefasst hatte. Da war er bloß einer von ihnen gewesen, ein Freund des dicken Mannes auf dem Thron. Sie hatte sich vor ihm gefürchtet, als er sie vor sich her in die Seitenkammer geschoben hatte. Sie hatte Angst gehabt, was er ihr antun würde. Doch der Mann hatte sie in Ruhe gelassen und ihr die Demütigung erspart.
Tir fasste sich an die Augen. Sie wandte sich von Bran ab, holte tief Luft und biss die Zähne zusammen. Immer, wenn sie so dasaß und nachdachte, kam das Böse zu ihr zurück. Die Erinnerungen strömten wie das Wasser der Gezeiten heran. Sie schluchzte, atmete aus. Die brennende Insel, die Schiffe, die Schreie, die über das Meer hallten; noch immer hörte sie sie. Sie erinnerte sich an die Tage auf dem Meer, ehe das Boot auf den steinigen Strand gespült wurde. Sie erinnerte sich an das Jahr auf der Insel, an die Früchte, die sie von den Bäumen gepflückt hatte, und die Fische, die sie in den Wasserlöchern gefangen und roh gegessen hatte. Einen Winter und einen Sommer hatte sie dort gelebt. Sie, Visikars Tochter, hatte sich in einer Hütte aus Zweigen und Lehm durch den Winter gefroren. Sie hatte es überlebt. Sie hatte die Stürme überlebt, die das Boot aufs Meer hinausgezogen und die Bäume ringsherum umgerissen hatten. Und aus den vom Wind geborstenen Stämmen hatte sie sich ein Floß gebaut, das sie nach Hause hätte bringen sollen. Doch die Vandaren kamen, legten an und kamen auf das Licht des Feuers zu. Sie nahmen sie mit an Bord ihres Schiffes, segelten nach Norden und verkauften sie an Sar, als wäre sie ein Stück Vieh.
Sie wischte sich mit dem Tuch die Augen trocken. Wäre er nicht an diesem Tag gekommen, hätte sich Sar ihr aufgezwungen. Der Inselkönig hatte es am ersten Abend versucht, als die Männer sie ihm gebracht hatten. Da hatte sie ihn getreten, hatte wie ein Kind versucht, sich gegen seine grapschenden Hände zur Wehr zu setzen. Man hatte sie zu Boden geworfen, sie festgehalten und geschlagen. Wieder und wieder brannten die Speerschäfte auf ihren Fußsohlen, bis man sie in diese Kammer gezerrt und sie an der Wand angekettet hatte. Sie hätten alles nur Erdenkliche mit ihr anstellen können, denn die Schmerzen hatten allen Stolz erdrückt. Doch der Inselkönig hatte von ihr abgelassen und stattdessen andere Frauen zu sich gerufen.
»Bran.« Sie legte ihre Hand in die seine. Seine Finger
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