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Brans Reise

Titel: Brans Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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bauen und Holz für den Winter sammeln. Er sah Säuglinge zu starken Jägern heranwachsen und zu Frauen, die selbst Kinder bekamen. Und er sah die Falten und grauen Haare in den bekannten Gesichtern. Er sah, wie Turvi zwischen den Bäumen umfiel und starb. Er sah Dielan und Gwen, die Augen vom Alter gezeichnet, an seinem Grab. Und an Dielans Seite, der weinende Mann vom Strand. Auch er war älter geworden, und sein Nacken war von Scham oder Trauer gebeugt. Er wandte sich von ihnen ab, fasste sich an den Kopf und hinkte unsicher auf die Bäume zu. Er taumelte in eine Hütte, die einen Steinwurf von den anderen entfernt stand, und sank auf einen breiten Stuhl. Dort hob er einen Weinschlauch vom Boden auf, löste den Gürtel unter seinem dicken Bauch und verschüttete Wein und Tränen über sein Gesicht.
    Mit einem Mal war Bran wieder zurück am Strand. Die Wellen beruhigten sich, und er spürte einen Arm an seiner Seite. Er drehte sich dem Arm zu, während die Gischt über ihn stob. Dann umarmte er den Körper der Frau und verwehrte es dem Meer, sie zu nehmen. Er ließ seine Finger durch ihr Haar gleiten, das in den Wellen trieb. Und er sah in die toten Augen, in denen sich das Meer spiegelte.
     
    Das Leintuch ruhte kalt auf seiner Stirn. Bran zog die Augenbrauen zusammen und öffnete dann die Lider.
    »Du brauchst dich nicht zu schämen«, sagte sie lächelnd. »Sogar Visikal verliert manchmal die Besinnung, wenn ihm die Fäden der verwachsenen Wunden aufgetrennt werden.«
    Bran fasst sich an den Hals. Die Wunde war wie zuvor, doch jetzt, da die Fäden fehlten, fühlte sie sich glatt an. Er schluckte und spürte, wie die Haut der Bewegung folgte.
    Tir strich mit der Hand über die Wunde auf seinem Arm. Sie betrachtet die Narben wie ein Schmied ein frisch geschmiedetes Schwert, dachte Bran. In ihren Augen lag einzig der Stolz des Handwerkers über eine gelungene Arbeit. Oder war da doch noch etwas anderes? Denn wer war er, um so etwas beurteilen zu können? Was wusste er über Frauen, er, der er all sein Wissen vom Hörensagen hatte? Sie benetzte das Leintuch in einem Bronzefass, faltete es zusammen und legte es auf seine Stirn. Er hatte Geschichten darüber gehört, erzählt von Nomaden, die zur Felsenburg gekommen waren und für ein Stück Fleisch des Abends am Lagerfeuer alte Weisen und Geschichten erzählten. Oft handelten sie von Kriegern, die verletzt wurden und dann von den Frauen, die sie gerettet hatten, gepflegt wurden. Dann wurden sie Mann und Frau, und die Frau gebar dem Krieger viele Kinder, während er weiter in den Krieg zog und mordete. Bran hatte diese Geschichten nie gemocht, und der Vogelmann pflegte zu sagen, das sei Gebräu aus einem rostigen Kessel. Trotzdem vermochte er das merkwürdige Gefühl, das ihre Nähe in ihm verursachte, nicht zu verdrängen.
    »Du bist jetzt gesund.« Sie wrang das Leintuch über der Schüssel aus, erhob sich und trug es zum Fenster an der Nordwand hinüber. Dann schob sie die Verriegelung zur Seite und klappte das Gitter hoch, so dass sie das Wasser auskippen konnte. Bran stand auf. Sein Kopf brummte. Am liebsten hätte er noch ein wenig hier geruht und sie gebeten, ihn zu verzaubern, damit die Krallen losließen.
    Sie schob den Riegel vor das Holzgitter und kam auf ihn zu.
    »Ich werde dich hinausbegleiten.« Sie nahm das Talglicht. »Es ist spät, und die Tür zum Hof ist verschlossen. Du kannst durch die Tür für die Diener hinausgehen.«
    Bran folgte ihr auf den Flur und die Treppe hinunter. Unten saß ein Mann an dem Eichentisch, doch er war durch den Rücken des Stuhls verborgen; seine Hand umklammerte einen Bronzekrug. Die schweren Atemzüge verrieten, dass er schlief.
    Tir deutete auf eine niedrige Tür unter der Treppe. Es knirschte, als sie sie aufschob. Sie kamen in einen weiteren Raum. Im schwachen Schein des Talglichts konnte er dicht an dicht unter der Decke Schinken und getrocknetes Fleisch erkennen. Wie Heu auf einem Reiter, dachte er. Auf dem Boden lagen Stapel dicker Säcke, und runde Brote hingen an Stangen, die aus Löchern in den Steinwänden herausragten. Bran staunte mit offenem Mund, denn niemals zuvor hatte er so viel Essen gesehen, und er dachte, wenn das alles Visikal gehörte, dann war er wirklich ein reicher Mann.
    Hinter einer Reihe von Kornsäcken öffnete Tir eine weitere Tür. Draußen hörte Bran den Regen auf den Boden prasseln.
    »Folge dem Weg.« Sie hielt das Talglicht zur Tür und schirmte mit der anderen Hand die Flamme ab.

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